Wie macht sie das nur?
Seit einer Viertelstunde etwa stehen wir an der Bande einer Reithalle. Die Klassik-Reitlehrerin und die Schülerin mit ihrem Pferd bewegen sich gemeinsam wie in einer Blase durch den Hallensand. Und dann gibt es plötzlich diesen Augenblick, in dem Pferd und Reiter anfangen zu strahlen – der Mensch im Sattel grinst und das Pferd schwingt lockerleicht über den Rücken. Dabei geht es hier nicht um perfekte Lektionen. Sondern darum, dass Pferd und Reiter miteinander zufrieden sind. Und das zu sehen, ist einfach nur schön.
Stallarbeit für eine Runde Reiten
Viele von Marcella Beckers Schülerinnen sind Freizeitreiter, ihre Pferde selten Dressurcracks, sondern normale Warmblüter, Quarter, Tinker, Araber, Iberer oder Ponys. Ein bunter Haufen an Reitern und Pferden, denen Marcella Becker immer versucht, gerecht zu werden. Bei ihr gibt es keine pauschalen Standardsprüche und keine bestimmte Vorgehensweise. "Jedes Pferd und jeder Reiter sind doch eigene Persönlichkeiten”, betont die Klassik-Ausbilderin. "Es gibt immer etwas, was Pferd oder Reiter besonders gut können und manches, was nicht so gut klappt. Ich setze den Fokus nicht auf die Probleme, sondern auf das, was in beiden drinsteckt. Damit können wir dann gemeinsam arbeiten und weiterkommen.” Den Blick auf das Positive zu lenken, das macht den Unterricht von Marcella Becker aus.
Die 61-Jährige stammt nicht, wie viele andere Ausbilder, aus einer Reiterfamilie. Im Gegenteil: Ihre Eltern hatten wenig Verständnis für ihre Pferdeliebe. Mit dem Fahrrad ist sie heimlich zu Pferdehöfen gefahren, um ihre Dienste als Stallmädchen anzubieten. Sie mistete Ställe aus, um im Gegenzug eine Runde Schritt reiten zu dürfen. Bei einem älteren Herrn, der jedes Jahr im Frühjahr ein Pferd kaufte und es dann im Herbst wieder verkaufte, begann sie zu reiten – oder vielmehr, sich im Sattel zu halten. Mit 16 Jahren hatte sie dann die Möglichkeit, Reitstunden im Reitverein zu nehmen. Schulpferd Pluto war berüchtigt zu buckeln und sich dabei wie ein Korkenzieher in der Luft zu drehen. "Ich war damals viel mutiger als heute. In einer Stunde war es normal, fünfmal herunterzufallen”, erzählt Marcella Becker. "Reiten mit Einfühlungsvermögen fürs Pferd wurde uns damals nicht vermittelt. Im Kasernenton wurden wir ermahnt, die Absätze herunterzudrücken und gerade zu sitzen.”
Pferdegerechte Reitausbildung in den USA
Während ihres Studiums in Mannheim hing sie das Reiten erstmal an den Nagel. Ein Austauschprogramm ermöglichte Marcella Becker dann, ihr Studium in Oregon, USA, fortzusetzen. An der dortigen Uni wurde Reiten angeboten. Und das war reiterlich eine neue Welt: Zum ersten Mal erlebte sie Ausbilder und Reitlehrer, die auch das Pferd sahen, anstatt nur Techniken zu lehren. "Da hatte ich einen Springlehrer, einen ganz zarten Mann. Er sagte immer: Lass das Pferd machen”, berichtet Becker.
Marcella Becker blieb zunächst in den USA, schloss ihr Politikwissenschafts-Studium mit dem Doctor of Philosophy ab und nahm an der Uni eine Lehrtätigkeit auf. Auch reiterlich ging es voran: Sie freundete sich mit einer Reiterin an, die Vollblüter von der Rennbahn kaufte und diese von Grund auf klassisch ausbildete. Ihr half sie beim Ausbilden der Pferde. Außerdem ritt sie für eine Züchterin Araber an, besuchte Lehrgänge und lernte so den Klassik-Ausbilder Dr. Thomas Ritter kennen, bei dem sie begann, regelmäßig Unterricht in der klassischen Dressur zu nehmen.
Als die Lebensumstände Marcella Becker wieder zurück nach Deutschland brachten, landete sie zunächst im Norden. Da war Richard Hinrichs, Gründer des Bundesverbandes für klassisch-barocke Reiterei in Deutschland e. V., bei dem sie abermals Wissen über die klassische Reitkunst aufsaugen konnte. "Heute bin ich froh, dass ich nicht in der Sportpferde-Szene gelandet bin. Dann hätte ich sicher Einiges zu bereuen”, betont Becker, die sich auch bei weiteren Ausbildern der verschiedenen klassischen Reitschulen fortgebildet hat. "Zum einen habe ich bei jedem Ausbilder etwas mitgenommen, wofür ich sehr dankbar bin. Zum anderen ist mir eine große Bandbreite an unterschiedlichen Pferden begegnet, vom Iberer bis zum Gangpferd. So habe ich lernen dürfen, mich auf jedes Tier neu einzustellen – und in jedem Pferd etwas Neues und Tolles zu entdecken.” Aber die Pferde sind die besten Lehrer, sagt Marcella Becker und lächelt. Ihre Augen glänzen besonders dann, wenn sie an ihre eigenen Pferde denkt. Aktuell sind das PRE-Wallach Iberico und die PRE-Lusitano-Mix-Stute Canela.
Reitpause und Neustart nach Unfall
Der braune Iberico (13) sieht bei der Freiarbeit immer noch am glücklichsten aus, findet seine Besitzerin. Ein Grund, warum die leidenschaftliche Klassik-Reiterin im wahrsten Sinne des Wortes neues Terrain erobert. "Eigentlich war das gar nicht mein Ding”, gesteht sie, aber Iberico sei ein so verschlossener Typ, dass sie etwas finden wollte, was ihn dazu bringt, sich aus seinem Schneckenhaus herauszuwagen. "Das war auch ein Prozess für mich”, erzählt Marcella Becker, die das Pferd "funktionierend” übernommen hatte, aber beschloss, noch einmal ganz von vorn anzufangen. "Ich möchte, dass er nicht nur seinen Job macht, sondern auch dabei strahlt – bei der Dressur, beim Ausreiten oder eben bei der Freiarbeit.”
Ein echter "Reset”, wie sie es nennt, war jedoch ein Unfall mit ihrer Stute Canela, der sie vor gut einem Jahr zunächst aus der Bahn geworfen hat. "Der Unfall hat mich verunsichert und mir gezeigt, wie wichtig das Vertrauen zwischen Mensch und Pferd ist”, so die Ausbilderin. Die Erholungszeit hat sie genutzt, um noch einmal den Fokus auf die Beziehungsarbeit zu legen und sich weiterzubilden – unter anderem über die neuere Gehirnforschung bei Pferden: "ein total spannendes Thema!” Diese Reitpause war für die Klassik-Trainerin eine neue, aber doch unerwartet positive Phase. Vielen Reitern gehe es doch ähnlich nach einer schlechten Erfahrung, merkt sie an. "Wer dann erstmal nicht in den Sattel steigt, kann sein Pferd und sich selbst ganz anders kennenlernen. Das ist eine wichtige Basis für den erfolgreichen Neustart”, betont Marcella Becker.
Stute Canela (10) ist, anders als ihr Kollege Iberico, eher eine extrovierte Persönlichkeit mit einer Vorgeschichte, die es ihr erschwert, viele Reize gut zu verarbeiten. "Wegen ihr habe ich den Stall gewechselt”, erzählt Becker, "und einen ruhigen Ort für uns gefunden, an dem wir entspannt arbeiten können.” Canela fordert die ganze Aufmerksamkeit ihrer Besitzerin: "Bin ich einen Moment abgelenkt, macht sie ihr eigenes Ding”, sagt Marcella Becker grinsend, "bleibe ich aber klar und fokussiert, ist sie das gehorsamste Pferd der Welt.”
Ein Gespür für kleinste Details
Den Blick in das Innere, den hat Marcella Becker drauf. Sie weiß genau, wen sie unterrichtet, scannt die Stärken und die Schwächen. Im Reitunterricht sind es kleine Details, die sie korrigiert: Sie spricht von einer "Daumenparade außen”, wenn die Schülerin ihren Daumen kurz schließen soll, um ihr Pferd zu animieren, sich besser zu tragen. Bei einer klemmenden Stute erklärt sie der Reiterin, sie solle die Beine wie nasse Handtücher herabfallen lassen ("ein Zitat von Nuno Oliveira”) oder ihren "hinteren Lendenbereich beatmen” und den "Bauchnabel einziehen wie vor einem Boxschlag in den Bauch”, um dem Pferd den Weg nach vorne nicht mit dem eigenen Körper zu versperren und eine positive Spannung aufrechtzuhalten. Immer ist die Klassik-Ausbilderin nah an Pferd und Reiter, häufig folgt sie beiden auch, "damit ich von hinten sehen kann, ob das Pferd etwas nicht richtig macht, weil sein Reiter nicht in Balance sitzt”.
Die Übungen, die Marcella Becker sich für das jeweilige Pferd-Reiter-Team einfallen lässt, führen schnell zu einem sichtbaren Erfolg: Dann beginnt das Pferd sich plötzlich besser zu tragen oder kann leichter in den Galopp anspringen. Eine Frage des richtigen Moments und der korrekten Einwirkung. "Dann geht vieles auf einmal ganz leicht”, freut sich Marcella Becker. "In jedem Pferd steckt ganz viel Sensibilität. Es geht tatsächlich, immer weniger zu tun da oben im Sattel. Wenn man sich darauf einlässt”, betont die Ausbilderin.
"Ich unterrichte heute anders als vor fünf Jahren”, sagt die 61-Jährige. Sie fühlt sich klar in der Tradition der klassischen Dressur verankert, bezieht aber auch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse wie Gehirnforschung, Biotensegrität (eine neue Betrachtungsweise der Körperarchitektur) und Bewegungslehre mit ein. Becker vermittelt gerne Bilder und experimentiert mit Visualisierungen: "Mit der Vorstellung von einer Bewegung erreiche ich häufig mehr als mit einer Hilfe.” Die "Bubble”, in die sich Marcella Becker mit ihren Schülern begibt, ist wohlwollend und herzlich. Eine freundliche Stimmung ist ihr wichtig: "Wenn ich das ausstrahle, sind die Schüler auch freundlich zu ihren Pferden.”
Offen für Neues zu sein, das macht Marcella Becker aus. "Ich freue mich, wenn ich wieder etwas entdeckt habe, das mich und die Pferde weiterbringt.” Deshalb tüftelt sie an neuen Projekten und Unterrichtsformen wie ihrem Reitsimulator "Jokers Pluto” (den sie übrigens nach dem buckelfreudigen Schulpferd aus ihrer Kindheit benannt hat). Der Reitsimulator arbeitet kinästhetisch, also auf Grundlage von Bewegungserfahrungen. Er kann dem Reiter helfen, eigene Bewegungsmuster zu erkennen und zu optimieren. "Sitzschulung ist mein Steckenpferd”, so Becker. "Denn der Sitz ist das zentrale Element für Freude beim Reiten: Wenn Reiter und Pferd als zwei Persönlichkeiten und Körper harmonieren.”
Kontakt:
Mobilen Unterricht in klassischer Dressur und Sitzschulungen auf dem Reitsimulator bietet Marcella Becker in Lichtenwald/Baden Württemberg bzw. im Umkreis an. Außerdem möglich: Online-Unterricht, Lehrgänge und Workshops. Mehr Infos unter: marcella-becker-dressur.de