Zügelmessung: Pferde wünschen sanfte Anlehnung
Zügel-Messung mit drei Pferden

Der Zügelzug des Reiters kann die Bewegung des Pferds stören. CAVALLO hat den Zügelzug bei Pferd-Reiter-Paaren gemessen. Fazit: Pferde mögen Ruhe im Maul. Reit-Experten erklären, wie konstante Anlehnung funktioniert.

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Foto: Lisa Rädlein

Schwebephase? Fehlanzeige. Schon im Video sieht man, dass das Pferd sehr flach und kurz trabt. Die Einzelbilder enthüllen dann: Die Stute klebt förmlich am Boden, ihre Rückenlinie hebt und senkt sich in der Bewegung kaum noch. Der Grund dafür sind durchschnittlich 200 Gramm mehr Zug pro Zügel. Zwei kleine Joghurtbecher reichen aus, um einem 500-Kilo-Pferd den Gang komplett zu verderben.

Unsere Highlights

Diese Erkenntnis stammt aus einem spannenden Experiment, das CAVALLO mit Hilfe von Reit- und Verhaltens-Experten startete. Wir wollten wissen: Wie schmeckt Pferden die Anlehnung am besten? Wie verändern sie sich, wenn ihre Reiter die Zügel strammer oder lockerer führen als gewohnt?

Die klassische Reitlehre fordert eine weiche, stetige Verbindung zwischen Reiterhand und Pferdemaul. Doch dieser leichte und stabile Kontakt ist ein Märchen. Das enthüllten schon vor gut zehn Jahren die ersten Zügelmessungen von CAVALLO. Die Messkurven zeigten mehr oder weniger wildes Auf und Ab anstatt konstanter Linien. Der Druck schwankte umso mehr, je schneller die Pferde unterwegs waren. Selbst Top-Dressurreiter griffen in manchen Momenten mit bis zu 10 Kilo in die Zügel, und die Anlehnung wurde mit zunehmendem Ausbildungsstand immer stärker anstatt leichter. Auch bei Westernpferden, die ohne Anlehnung geritten werden, herrscht keineswegs Ruhe im Maul.

Höchste Zeit also, mal die vom Zügelzug Betroffenen nach ihrer Meinung zu fragen. Wie viel Kilo im Maul sind okay? Weil Pferde über ihre Vorlieben nicht sprechen können, ritten drei Hobby-Reiterinnen eine kleine Aufgabe mit normaler, weniger und mehr Zügelspannung. Auf dem Hof von Dressurausbilderin Andrea Bethge im niedersächsischen Rehburg-Loccum wurden sie gefilmt und ihr Zügelzug gemessen. Danach beurteilten Verhaltensforscherin Dr. Konstanze Krüger und Biomechaniker Dr. Gerd Heuschmann die Pferde in den Videos, ohne zu wissen, was verändert worden war.

So funktioniert der Versuch

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Lisa Rädlein
Der Zugsensor schickt die Daten per Kabel an einen Rekorder, den die Reiterinnen am Bauch tragen.

Die Test-Ritte: Die Basis für das CAVALLO-Experiment zum Zügelzug lieferten drei Test-Reiterinnen. Nach etwa 15 Minuten Warmreiten absolvierten sie dreimal hintereinander eine kurze Dressur-Aufgabe. Das Programm dauerte ungefähr anderthalb Minuten. Die Teilnehmerinnen ritten dabei Schritt und Trab (Aussitzen und Leichttraben) auf dem Zirkel und ganze Bahn auf beiden Händen. Im ersten Durchgang blieb die Zügelverbindung so, wie die Reiter es gewohnt waren. Danach sollten sie im nächsten Durchgang mit deutlich weniger und im letzten mit deutlich mehr Kontakt als üblich reiten.

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Falaturi
Ausschnitt der Messungen von Stute Despina. Die schwarze Linie zeigt den normalen Zügelzug, grün den geringeren und rot den höheren Zug.

Technik und Datenanalyse: Während der Testritte zeichnete der promovierte Biologe und Biomechaniker Dr. Parvis Falaturi mit Zugsensoren auf, welche Kräfte zwischen Zügel und Gebiss wirkten. Vom den fein kalibrierten Metallfedern führte je ein Kabel zu einer kleinen Box. Dieser Datenrecorder zeichnete 100 Messwerte pro Sekunde auf. Die Reiterinnen trugen ihn unter einer breiten, elastischen Bauchbinde.

Die gesammelten Daten analysierte Falaturi mit einem speziellen Auswertungsprogramm. Die Verbindung zwischen Reiterhand und Pferdemaul ist ein ständiges Auf und Ab. Deshalb ist laut Falaturi die durchschnittliche Stärke der Druckspitzen der aussagekräftigste Messwert in diesem Versuch. Von diesen Druckspitzen gibt es pro Bewegungszyklus des Pferds zwei. Das heißt, in der Zeit, in der alle vier Pferdefüße einmal auffußen, gibt es zwei Kontakte im Pferdemaul.

Videoanalyse: Alle Ritte wurden auf Video aufgenommen. Tierarzt und Biomechaniker Dr. Gerd Heuschmann aus Münster sowie Verhaltensforscherin Dr. Konstanze Krüger von der Hochschule Nürtingen analysierten anhand der Aufnahmen das Verhalten der Pferde bei allen Ritten. Sie erfuhren erst nach der Beurteilung, worum es ging. Ihre Analysen beziehen sich auf die Video-Nummern. 1 war der Ritt mit normaler Zügelspannung, 2 zeigt den Ritt mit loseren Zügeln und 3 die Runde mit dem stärksten Zügelzug. Ausbilderin Andrea Bethge trainiert die Test-Reiterinnen und war bei den Messungen dabei.

Auch sie warf einen Blick auf die Videos.

Stute Luna: Reagiert sensibel am Zügel

Sie zappelt und trippelt, galoppiert an und ist sichtlich unzufrieden. Stute Luna ist am Messtag offenbar mit dem linken Huf zuerst aufgestanden. Ihre Besitzerin Nadine Rohde bleibt trotzdem locker, als sie ihre sensible Oldenburgerin durch die drei CAVALLO-Messrunden steuert.

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Ein hektisches Pferd mit guter Reiterin

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CAVALLO
Selbst bei verringertem Zügelzug fehlt der sensiblen Oldenburger-Stute Balance (oben). In der Messung mit höherem Druck verliert Luna dann zum Teil völlig den Takt (unten). ∅-Zug kg: 1.3 / 1.2 / 1.5* ∅-Zugspitzen kg: 2.2 / 2.1 / 3.2 (* erste Zahl zeigt die Messwerte bei normalem Zügelzug, die zweite Zahl mit weniger Zug und die Dritte mit mehr.)

Dr. Gerd Heuschmann: Die Reiterin sitzt schön und trägt die Hände gut. Dennoch geht ihr Pferd in keiner Sequenz gut. Ihm fehlen Grundbalance und Gelassenheit.

Im ersten Video (bei normalem Zügelzug) zeigt das Pferd im Schritt durch Schweifschlagen und Maulsperren, wie unwohl es sich fühlt. Der Schritt ist sehr flach und eilig. Auch der Trab ist zu flach und kurz. Das Pferd widersetzt sich auf der linken Hand zudem deutlich dem Versuch, es zu biegen. Im Leichttraben wird die Situation etwas besser, aber das Pferd findet immer noch nicht in den Takt.

Auch im zweiten Video (mit weniger Zügelzug) ist der Schritt noch eilig. Dennoch wirkt das Pferd etwas gelassener und öffnet das Genick ein wenig. Es findet zwischendurch mehr Ruhe und schlägt weniger mit dem Schweif. Im Trab sind weiterhin deutlich Spannungen zu sehen. Zum Ende diese Sequenz, vor allem im Leichttraben, lösen die sich aber etwas. Hier können wir einen scheinbar paradoxen Effekt sehen, den ich häufig beobachte: Lässt die Spannung im Rücken nach, zeigen sich häufig Taktfehler. Das passiert auch hier. Die Taktprobleme sind in diesem Fall ein Zeichen von Entspannung, nicht von Verspannung.

Im dritten Video (stärkerer Zug) kommen im Schritt Spannungen und Unzufriedenheit zurück. Der Trab ist hektisch und gelaufen. Es gibt massive Störungen wie das Angaloppieren. Sie zeigen, dass die Spannung im Pferd wieder steigt. Im Leichttraben verbessert sich die Situation leicht, aber der Takt ist jetzt stark gestört.

Dr. Konstanze Krüger: In Video 1 (normaler Zug) zeigt das Pferd im Schritt deutliche Taktfehler. Es ist im Genick verworfen, Kopf und Ohren sind unruhig, es schlägt mit dem Schweif. Auch im Trab schlägt das Pferd mit dem Kopf und hat oft die Ohren hinten. Es sperrt das Maul auf, kaut nervös, verschiebt die Hinterhand nach links, geht gegen den Zügel und drückt den Rücken weg.

Auch beim zweiten Ritt (weniger Zug) ist das Pferd sichtbar nervös. Es geht keinen klaren Schritt, sondern trippelt und hält sich fest. Die Taktstörungen sind deutlich. Im Trab geht es zuerst taktrein mit mehr Dehnung im Hals und wird freier in der Schulter. Im Leichttraben kommen dann wieder Taktfehler und das Pferd sperrt im Maul.

Beim dritten Ritt (mehr Zug) geht sowohl im Schritt als auch im Trab der Takt total verloren. Das Pferd wirkt jetzt durchgehend extrem aufgezogen, unruhig und unwillig.

Andrea Bethge: Luna ist schwierig und sehr störanfällig. Am Messtag hatte sie einen schlechten Tag, in keiner der Sequenzen geht sie auch nur ansatzweise gut. Sie ist die ganze Zeit mehr oder weniger stark ge- oder verspannt, trabt flach und zappelig, zackelt im Schritt, hält Rücken und Oberlinie fest.

In der Sequenz mit weniger Zügelzug sehe ich im Schritt noch mehr Störungen, sie trabt mehrmals an. Ich finde die Sequenz nicht besser als mit normalem Zügelmaß.

Mit stärkerem Zügeldruck ist Luna aber deutlich am angespanntesten. Sie trabt nicht nur kurz, sondern auch ungleich und mit Taktfehlern. Diese Sequenz ist deutlich schlechter als die anderen beiden.

Niedrige Zugspitzen, starke Schwankungen

Dr. Parvis Falaturi: Bei diesem Pferd sehen wir insgesamt sehr niedrige Impulsspitzen. Auch beim Annehmen der Zügel landete relativ wenig Druck im Pferdemaul. Die Werte unterscheiden sind in den Messungen "normal" und "leichter" allerdings kaum (2,2 Kilo vs. 2,1 Kilo). Als die Reiterin mit höherem Zügelzug reitet, klettern die Zuspitzen auf 3,2 Kilo im Durchschnitt. Bei diesem Pferd-Reiter-Paar hat mich vor allem eins überrascht: In der zweiten Messung, also der mit weniger Zug, sehen wir deutlich stärkere Schwankungen als bei der vorigen Messung. Die Zügel werden offenbar etwas leichter geführt, dafür greift die Reiterin manchmal kräftiger zu als in der vorigen Messung.

Das sagt das Pferd: Die gestresste Luna entspannt sich etwas, als der Zügelzug nachlässt. Bei höherem Zug am Zügel reicht das Gewicht von zwei Joghurtbechern aus, um Takt und Schwebephase massiv zu stören.

Stute Cascada: Balance-Probleme lösen

Die erst fünf Jahre alte Trakehner-Stute Cascada sucht unter dem Sattel noch ihr Gleichgewicht. In allen Ritten für die Zügelmessung fehlen der Stute Takt und Losgelassenheit.

Ihre Besitzerin Anne Jäger-Klein reitet insgesamt mit einer eher leichten Zügelverbindung. Dabei versucht sie jedoch, der Stute mit tiefer Hand Sicherheit zu geben. Weil sie deswegen ihre Hände etwas zu tief trägt, blockiert sie sich und ihr Pferd ein wenig.

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Lisa Rädlein
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Auf der Suche nach Takt und Balance

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Trakehner-Stute Cascada lässt sich im Schritt nicht richtig fallen, auch nicht in der Messung mit niedrigem Zügelzug (o.). Als die Reiterin den Druck im Maul etwas erhöht, zeigt die Stute Spannung und Abwehr (u.). ∅-Zug kg: 1.3 / 1.2 / 1.5* ∅-Zugspitzen kg: 2.2 / 2.1 / 3.2 (* erste Zahl zeigt die Messwerte bei normalem Zügelzug, die zweite Zahl mit weniger Zug und die Dritte mit mehr.)

Dr. Gerd Heuschmann: Wir sehen hier ein Reiter-Pferd-Paar, das vom Niveau und von der Harmonie deutlich über dem liegt, was in vielen deutschen Reitställen sonst üblich ist. Die Reiterin bemüht sich sichtlich, fein einzuwirken und ihrem Pferd nicht zu schaden. Doch damit kann sie die fehlende Grundbalance ihres Pferds nicht überwinden. In allen drei Videos hat das Pferd den Rücken in Abwehr gegen die Reiterin gespannt und gibt sein Genick nicht her.

In der Schrittsequenz des ersten Videos (normaler Zug) wirkt das Pferd mechanisch beigezäumt und verspannt. Es lässt den Hals nicht fallen, was auch an der falschen Handposition der Reiterin liegt. Im Trab geht das Pferd mit hoher Kruppe und hebt sich immer wieder raus. Es biegt sich nicht, sondern knickt am Widerrist ab; der Hals kommt nach innen, die Schulter geht nach außen.

Auch beim zweiten Ritt (weniger Zug) lässt sich das Pferd im Schritt kaum fallen. Dennoch sind Raumgriff und Takt hier etwas besser als im vorigen Video, vor allem auf der rechten Hand. Im Trab läuft das Pferd zunächst wieder flach und taktlos. Es ist aber weniger gespannt als im vorigen Video. Auf der rechten Hand entwickelt es dann im Leichttraben sogar ein wenig Takt.

Im dritten Durchgang (mehr Zug) wird das Pferd in Genick und Hals deutlich steifer und hebt sich, vor allem links, öfter heraus. Im Trab ist der Rücken erst ganz fest. Als die Reiterin leichttrabt, wird das etwas besser, aber das Genick bleibt steif.

Dr. Konstanze Krüger: Dieses Pferd zeigt in allen Sequenzen deutliche Taktfehler im Schritt und stets einen gebundenen Trab. Es wirkt auf mich durchgehend unzufrieden.

Die Befunde für den ersten Ritt (normaler Zug) gelten deshalb in weiten Teilen für alle drei Durchgänge. Der Schritt ist bei diesem Pferd fast permanent gestört und es hält sich im Rücken fest. Die Ohren gehen unruhig hin und her. Dazu schlägt es leicht mit dem Schweif und verwirft sich im Genick nach rechts. Beim Antraben schlägt das Pferd dann stark mit dem Schweif und richtet beide Ohren nach hinten. Das zeigt beides klar an, dass das Tier sich unwohl fühlt. Darauf weist auch das Sperren mit dem Maul hin. Zudem geht das Pferd gegen die Reiterhand und drückt den sowieso schon festgehaltenen Rücken weg. Beim Leichttraben lässt es dann den Hals zwar etwas fallen, kommt aber dafür mit der Stirn-Nasenlinie hinter die Senkrechte.

Auf dem zweiten Video (weniger Zug) wird das Pferd im Schritt eng im Hals. Im Leichttraben versucht es dafür, etwas den Hals fallen zu lassen und seinen Rahmen zu öffnen. Ansonsten sehe ich keine wesentlichen Unterschiede zum ersten Video.

Beim dritten Ritt (mehr Zug) trägt die Reiterin nun eine Gerte. Ansonsten sehe ich wieder nur geringe Unterschiede zu Video eins und zwei. Der Zügel springt in diesem Video etwas öfter, das Pferd hat beide Ohren öfter nach hinten gerichtet und wirkt angespannt. Trab immer noch sehr gebunden und Pferd im Genick verworfen.

Andrea Bethge: Ich kenne Anne noch nicht sehr lange, sie hat bei mir gerade erst mit dem Reitunterricht angefangen. Für mich ist deutlich, dass die nicht optimale Zügelführung das Pferd in allen drei Sequenzen stört. Es ist deshalb schwer auszumachen, wo das Pferd wirklich am besten geht. Allerdings gefällt mir hier der Ritt mit dem geringeren Zügelzug tendenziell am besten. Das Pferd nimmt es sichtbar gut an, wenn der Zug am Zügel etwas weniger wird. Genau daran arbeiten wir momentan auch im Rahmen unserer Reitstunden. Anne konzentriert sich gerade stark darauf, die Zügel noch leichter zu führen.

Wenig Unterschied bei den Messreihen

Dr. Parvis Falaturi: Die Messdaten zeigen, dass es der Reiterin schwer fiel, die Stärke ihrer Zügelverbindung nennenswert zu variieren. Die Werte der drei Mess-Sequenzen liegen bei ihr dichter zusammen als bei den anderen beiden Reiterinnen.

Bei normalem Zügelzug lasteten im gesamten Durchschnitt der Messung 1,7 Kilo auf jedem Zügel. Die Druckspitzen waren durchschnittlich 2,6 Kilo stark. Als die Reiterin mit weniger Zügelkontakt reiten sollte, verringerte sich der Durchschnittswert pro Zügel gerade mal um knapp 100 Gramm auf 1,6 Kilo. Die Druckspitzen waren bei dieser Messung im Durchschnitt mit 2,8 sogar etwas höher als in der Normal-Messung.

Hier zeigt sich ein Phänomen, was im Experiment bei allen Reiterinnen ähnlich auftrat: Wenn sie die Zügel leichter führten, griffen sie in schwierigen Situationen, wo Korrekturen nötig waren, tendenziell etwas stärker zu. So landete zwar insgesamt etwas weniger Kraft im Pferdemaul, aber dafür waren die Druckspitzen manchmal höher. Wenn in einer Messung mehr Korrekturen erfolgten als in einer anderen, ließ das den Durchschnittswert für die Druckspitzen sofort ansteigen.

In der Messung mit erhöhtem Druck nahm die Kraft auf Cascadas Zunge im Durchschnitt gerade mal um 200 Gramm auf 1,9 Kilo pro Zügel zu. Die Druckspitzen stiegen im Durchschnitt auf 3,0 Kilo. Das ist nicht nennenswert höher ist als bei den anderen Messungen dieser Reiterin.

Auch die anderen Test-Reiterinnen haben den zur Verfügung stehenden Spielraum an den Zügeln nicht ansatzweise ausgenutzt. Die Differenz zwischen den niedrigsten und den höchsten Durchschnittswerten der Druckspitzen lag maximal bei 2,1 Kilo. Aus Zügelmessungen mit anderen Reitern wissen wir, dass die Werte noch deutlich niedriger und höher sein könnten.

Das Interessante dabei: Obwohl die Unterschiede oft nur im Huntertgrammbereich lagen, hatten die Reiterinnen trotzdem das Gefühl, sie hätten ihre Zügelführung erheblich verändert.

Das sagt das Pferd: Mit einer leichteren Zügelverbindung findet Cascada zu etwas mehr Balance und Takt. Bei höherem Zug wird sie fest und wehrt sich gegen den Zügel.

Stute Despina: Balanciert und drucktolerant

Die Hannoveraner-Stute Despina (10) und ihre Reiterin kannten sich nicht. Daniela Frieße sprang kurzfristig ein, als eine andere Testkandidatin ausfiel und war in der Experiment-Situation entsprechend angespannt. Pferd und Reiterin hatten Mühe, miteinander klarzukommen, was sich auch in den Messwerten spiegelt. Sie liegen etwas höher als bei den anderen beiden Paaren.

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Ein sicheres Pferd, das seinen Weg geht

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Auf Despinas Zunge landen bei leichtem Zügelkontakt so viele Kilos wie bei den anderen Pferden bei stärkstem Zug. Die Stute zeigt dennoch Takt und Balance (oben). Sie verträgt offenbar mehr Druck. Aber auch sie wird bei mehr Zug fester (unten). ∅-Zug kg: 2.2 / 1.9 / 2.9* ∅-Zugspitzen kg: 3.9 / 3.2 / 5.0 (* erste Zahl zeigt die Messwerte bei normalem Zügelzug, die zweite Zahl mit weniger Zug und die Dritte mit mehr.)

Dr. Gerd Heuschmann: Diese Reiterin zeigt hier klare Sitzschwächen. Dennoch hat ihr Pferd eine bessere Grundbalance als die anderen Pferde. Sein Verhalten verändert sich in den drei Videos in meinen Augen am wenigsten. Vielleicht, weil die leichte Reiterin das große Pferd nicht so sehr stört.

Im ersten Video (normaler Zug) sieht man einen gebundenen Schritt mit hoher Kruppe und viel Unruhe im Schweif. Im Trab lässt das Pferd den Rücken zwar nicht wirklich los, zeigt aber dennoch erkennbar Takt, rechts mehr als links. Im Leichttraben wirkt das Pferd deutlich zufriedener, kippt aber immer mal wieder hinter die Senkrechte.

Der zweite Ritt (weniger Zug) beginnt im Schritt mit einem offeneren Genick und etwas weniger Abwehr beim Pferd, auch wenn es immer noch gelegentlich mit dem Schweif schlägt. Das Pferd kommt manchmal etwas über den Zügel. Das ist mir immer lieber, als dass ein Pferd mit der Nase hinter die Senkrechte kippt und zu eng wird. Im Trab sitzt die Reiterin besser als auf Video 1, der Takt ist gut. Unruhe im Schweif ist weiterhin da, aber das Pferd wirkt etwas zufriedener als zuvor. Allerdings fehlt mir hier jetzt Fleiß, das Pferd geht zu verhalten.

Im dritten Video (mehr Zug) nimmt das Schweifschlagen im Schritt wieder zu. Das Pferd versteift sich im Genick, hebt sich raus und geht gegen die Hand. Im Trab wirkt es zufriedener als im Schritt, wird aber im Hals enger und wirkt mechanisch beigezäumt.

Dr. Konstanze Krüger: Dieses Pferd zeigt Taktfehler in Schritt und Trab, es wirkt insgesamt eher unzufrieden. Im ersten Video (normaler Zug) ist der Schritt passartig gestört. Das Pferd ist fest in Rücken und Unterhals, es drückt gegen die Reiterhand und schlägt mit dem Schweif. Auch im Trab ist der Takt gestört. Das Pferd schnickt mit dem Kopf, ist unruhig im Maul, wendet die Ohren zurück, schlägt mit dem Schweif.

Beim zweiten Durchgang (weniger Zug) fällt im Schritt das unruhige Maul auf. Im Trab zeigt das Pferd eine Tendenz, den Hals fallen zu lassen und den Rücken herzugeben, doch der Takt ist immer wieder gestört.

Der dritte Ritt (mehr Zug) zeigt im Schritt ein enges Genick mit falschem Knick, die Nase kommt hinter die Senkrechte. Der Schritt ist passartig gestört. Im Trab sehen wir Taktstörungen. Das Pferd wird im Hals enger und kommt hinter die Senkrechte. Sein Gesichtsausdruck ist auffallend stumpf.

Andrea Bethge: Die Ausgangslage war ungünstig. Die Reiterin kannte das Pferd nicht und war angesichts der Situation unsicher. Bei weniger Zügelzug wurde das Pferd zunächst etwas lang, drückte auf die Hand, wirkte unsicher. Es scheint, als fehlte dem Pferd die Führung. Dann wurde die Stute jedoch deutlich besser, vor allem im Leichttraben. Im dritten Video mit mehr Zügelzug war die Stute dann völlig durcheinander und gestresst, ihr Gang war total kaputt.

Höchste Werte und stärkste Varianz

Dr. Parvis Falaturi: Dieses Pferd geht durchgehend mit dem stärksten Zügelkontakt in unseren Messungen. Aus meiner gesamten Messerfahrung kann ich allerdings sagen, dass diese Werte absolut im Normalbereich liegen. Viele, auch gute Reiter, haben noch deutlich mehr Gewicht am Zügel.

Ebenso wie bei den vorigen beiden Reiterinnen können wir bei den Messwerten von diesem Paar beobachten, dass die Schwankungen im Zügeldruck zunehmen, wenn die Reiterin mit weniger Zügelzug reiten will. Die leichte Hand führt hier bei allen drei Reiterinnen dazu, dass einzelne Impulse stärker kommen als in den Messungen, wo ein höherer Grundzug herrscht.

Das sagt das Pferd: Despina verträgt mehr Druck im Maul als die anderen Test-Pferde. Aber auch diese Stute zeigt: Weniger Zügelzug mag sie lieber, mehr Zug führt zu Stress.

Fazit: Weiche Anlehnung ist gewünscht

Zugegeben – wirklich überraschend ist es nicht, dass Pferde leichtere Zügelverbindungen bevorzugen. Und drei Pferde sind nur eine kleine Stichprobe bei geschätzt 1,2 Millionen Equiden in Deutschland. Doch die Testpferde reagierten überraschend deutlich. Der Versuch, leichter zu reiten, förderte bei allen Takt, Balance und Zufriedenheit. Mehr Zug sorgte dagegen für mehr Spannungen, Abwehr durch Maulsperren und Schweifschlagen sowie zum Teil massiven Takt- und Balance-Verlust.

Was können Reiter daraus lernen? Das Test-Team wollte wissen, ob und wie normale Freizeitreiter durch ihren Zügelkontakt das Wohlbefinden ihrer Pferde beeinflussen können. Die Ergebnisse zeigen deutlich: Wer loslässt, macht es sich und seinem Pferd leichter. "Dieser Versuch sollte alle Reiter ermutigen, stets eine noch leichtere Zügelverbindung zu suchen", sagt Dr. Konstanze Krüger. Sie findet, dass häufig zu viel Kraft im Maul herrscht. "Nicht immer ist den Reitern das bewusst", sagt Krüger. "In einer holländischen Studie sollten Reiter ihre Pferde in verschiedenen Kopf-Hals-Haltungen reiten. Bei vermeintlich normaler Anlehnung hatten viele ihre Pferde dauerhaft hinter der Senkrechten." Würden Reiter öfter daran denken, die Zügel leichter zu führen und häufiger nachzugeben, hätten die Pferde bessere Chancen, sich korrekt zu tragen.

Was heißt das für die Anlehnung? Biomechaniker Dr. Gerd Heuschmann sieht das klassisch-deutsche Konzept der Anlehnung bestätigt. "Der Reiter bietet Zügelkontakt an und das Pferd tritt an die Hand heran", erklärt der Tierarzt und Bereiter. "Wenn der Reiter aktiv Kontakt aufnimmt, den das Pferd nicht selbst aufbaut, er also die Zügel annimmt, hat er keine Chance mehr auf korrektes Reiten im Sinne der Reitlehre."

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Die Pferde haben gesprochen: Alle drei Testkandidaten gingen aus Sicht der Experten bei der Messung mit dem geringsten Zügelzug am besten.

Mehr Zügelzug ist keine Lösung

Wer zieht, macht alles nur schlimmer. Die Probleme der Pferde verschärften sich mit steigendem Druck am Zügel. Egal ob Takt, Balance, Losgelassenheit oder Biegung – alles wurde mit mehr Druck im Maul erkennbar schlechter. Die Botschaft ist eindeutig: Mehr Zügelzug ist garantiert keine Lösung.

Wie stark darf der Zügelkontakt sein? Kilos sagen nicht viel über die Qualität der Zügelführung. Keine der Test-Reiterinnen hing grob in den Leinen. Ihre Messwerte lagen laut Dr. Parvis Falaturi im niedrigen und mittleren Bereich des Normalen.

Stute Despina ging dabei trotz höherer Werte besser als Kollegin Luna mit leichterem Kontakt. Über den Grund kann man nur spekulieren. Neben der individuellen Sensibilität legt der Versuch eine andere Hypothese nahe: Despina hat mehr Grundbalance und Takt als die anderen Pferde. Vielleicht verträgt sie deshalb mehr Zug im Maul, bevor Wohlbefinden und Bewegungsqualität leiden. Trotzdem mochte auch sie leichteren Kontakt lieber. Sie und ihre Test-Kolleginnen sagen ganz klar: "Lasst mal locker!"

Experten der Zügel-Messung

Dr. Gerd Heuschmann

Der Tierarzt und Biomechaniker kämpft seit vielen Jahren für eine pferdegerechte Reitausbildung im Sinne der klassischen deutschen Reitlehre. Er lebt in Münster/Westfalen und gibt weltweit Seminare.
Kontakt und Infos unter www.gerdheuschmann.de

CAV Kiefer lockern - Dr. Gerd Heuschmann
Lisa Rädlein

Dr. Konstanze Krüger

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Lisa Rädlein
Zügelspannung Dr. Konstanze Krüger

Die Verhaltensforscherin ist Professorin für Pferdehaltung an der Hochschule Nürtingen-Geislingen. Mit Ehemann Knud Krüger führt sie in Regensburg eine Reitschule.

Andrea Bethge

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Zügelspannung Andrea Bethge

Die Dressurausbilderin aus Rehburg-Loccum in Niedersachsen fördert Pferde mit feinsten Hilfen und gerne mal ohne Reithalfter bis auf Grand-Prix-Niveau. Sie bietet Unterricht, Beritt und Kurse.

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6 / 20253

Erscheinungsdatum 17.05.2023