Ob Mythen über eine feste Rangfolge in einer Herde, Kauen im Training, Gesten für Entspannung oder zum Thema nervöse Pferde und Training. Manche Irrtümer halten sich hartnäckig und werden nicht selten auch von professioneller Seite verbreitet.
CAVALLO hat zu allen vier Themen Experten befragt und sagt, dass nicht immer alles so ist, wie es überliefert wird. Aber lesen Sie selbst!
Irrtum 1: Die Rangfolge zwischen Pferden ist stabil und linear
Viele Reiter glauben, dass Pferde in festen Rangordnungen leben und jedes Tier einen genau bestimmten Platz einnimmt. Dabei ist eine Herde ein extrem dynamisches System.
Haben Sie sich auch schon mal gewundert, warum Ihr sonst so rangniedriges Pferd einen ranghohen Kumpel vom Futterplatz vertreibt? Ist es plötzlich in der Rangfolge aufgestiegen? Wohl kaum, denn im nächsten Moment wird es womöglich selbst von einem Pferd zur Seite gedrängt, das normalerweise rangniedriger ist.
Obwohl Szenen wie diese tagtäglich in Pferdeherden zu beobachten sind, stehen sie im Widerspruch zu den Vorstellungen von Herdensystemen, welche unter Reitern seit Jahren vorherrschen: Angenommen wird, dass sich Pferde in festen Rangordnungen organisieren und es eine Leitstute gibt, der sich alle anderen Pferde wie in einem Stufenmodell unterordnen.
Forscher wissen: Das Sozialgefüge von Pferden ist komplex. "Die Herdenstruktur ist nie ganz linear", sagt Pferdewissenschaftlerin Dr. Vivian Gabor. Die Rangordnung ist keine Ordnung im Sinne einer Leiter mit Sprossen, sondern besteht aus Dreiecksverbindungen (A über B über C über A) und in größeren Gruppen aus Netzwerkbeziehungen. Je mehr Pferde beteiligt sind, desto komplexer strukturiert ist eine Herde.
"Außerdem ist das soziale Gefüge einem ständigen Wandel unterzogen, weil Artgenossen die Gruppe verlassen oder hinzukommen. Ältere Tiere verlieren ihren Status, junge werden stärker und erfahrener", so Dr. Gabor.
Es gibt auch Pferde, die sich bei Konflikten zwischen Angreifer und angegriffenes Pferd stellen und so für weniger Aggressionen in einer Gruppe sorgen, ergänzt Ruth Herrmann, Verhaltensmedizinerin und Ausbilderin in der Schweiz. "Wenn diese Pferde zu einer Herde hinzukommen, kann es sein, dass diese innerhalb weniger Tage viel harmonischer wird. Trotzdem heißt das nicht, dass sich Pferde, die erfolgreich Konflikte schlichten, auch sonst durchsetzen können."
Der Rang eines Pferds kann in Einzelfällen erheblich variieren. Denn das Verhalten gegenüber Artgenossen wird auch durch die äußeren Umstände und den psychischen Zustand eines Pferds mitbestimmt. Verhaltensbiologin Marlitt Wendt spricht von einer "situativen Kontextabhängigkeit". Das bedeutet, dass neben dem Rang auch noch andere Faktoren wie vorausgegangene Erlebnisse, Bedürfnisse usw. Einfluss auf das Verhalten nehmen.
So kann es sein, dass ein besonders durstiges Pferd zuerst trinkt, obwohl es normalerweise rangniedrig ist. Die Aggressivität und Bereitschaft, etwas für sich einzunehmen, lassen das Pferd vorübergehend dominant erscheinen, obwohl es in anderen Situationen eher zurückhaltend ist.
Grund dafür sind oft die menschengemachten Haltungsbedingungen, die das Herdenleben anders als in freier Wildbahn gestalten: Während es in der Natur eine gleichmäßigere Ressourcenverteilung gibt, entstehen in menschlicher Obhut häufiger Konflikte, etwa um Futterstellen. Auch die klassische Rollenaufteilung von Leitstute und Leithengst gibt es bei uns in dieser Form nicht – weil es u.a. geschlechtlich getrennte Herden gibt oder Hengste früh kastriert werden.
Fazit
Die Vorstellung, dass Pferde in linearen Herdenstrukturen leben, ist überholt. Tatsächlich gestaltet sich die Rangordnung dynamisch und wird durch verschiedene Faktoren fortlaufend beeinflusst.
Irrtum 2: Kauen ist ein Zeichen für gutes Training
Kauende Pferde sind entspannt? Pferdetrainerin Andrea Kutsch ist gegenteiliger Auffassung. Die Expertin für wissenschaftlich basierte Pferdekommunikation erklärt, wo die Ursache für diese Geste liegt.

Kauen und Lecken zeigt eine Veränderung im vegetativen Nervensystem an

"In Ruhe wird der Organismus durch den Parasympathikus gesteuert. Er dient dem Stoffwechsel, der Erholung und dem Aufbau von Energiereserven. Wird ein Lebewesen Stress, also angsteinflößenden oder schmerzverursachenden Reizen ausgesetzt, schaltet das Nervensystem in den Sympathikus. Dieser bewirkt eine Leistungssteigerung und bereitet den Körper auf Angriff oder Flucht vor."
In der Folge steigen unter anderem Herzfrequenz und Blutdruck, der Stoffwechsel wird angeregt. Die Pupillen werden groß, die Bronchien erweitern sich, die Schweißdrüsensekretion wird gesteigert. Der Speichelfluss verringert sich, das Pferd bekommt ein trockenes Maul und trockene Lippen.
Verringert sich der Stress fürs Pferd, wird das vegetative Nervensystem wieder vom Parasympathikus gesteuert. Herzfrequenz und Blutdruck nehmen ab, die Pupillen verkleinern und die Bronchien verengen sich wieder. Die Speichelproduktion wird aufgenommen. Das Pferd zeigt diesen wieder beginnenden Speichelfluss durch die Geste "Lecken und Kauen". Diese ist also ein Indikator dafür, dass das Pferd Stress ausgesetzt war und sich nun wieder entspannen kann.
Kauen kann aber auch selbst ein Zeichen für Stress sein
"Wenn Pferde übermäßig kauen oder auf dem Gebiss klappern, kompensieren sie oft massiven Stress", sagt Verhaltensforscherin Dr. Gabor. Ruhiges Kauen im Training hält sie jedoch für eher wünschenswert: "Pferde an kurze und teilweise auch positive Stressphasen heranzuführen, erweitert die Grenze des Machbaren für das Pferd."
In bestimmten Situationen ist Kauen übrigens doch ein deutliches Zeichen für mentale Entspannung: Hält das Pferd beim Dösen etwa seinen Kopf gesenkt, löst sich der Unterkiefer, das Pferd speichelt vermehrt und kaut.
Um sicher einschätzen zu können, ob ein Pferd wirklich entspannt ist oder stressbedingt kaut, müssen andere Körpersignale wie eine angespannte Maulpartie oder ein unruhiges Ohrenspiel in Betracht gezogen werden.
Fazit
Kauen ist eine ambivalente Geste: Sie zeigt sich bei ganz entspannten Pferden oder ist – vor allem im Training – ein Hinweis darauf, dass das Pferd Stress ausgesetzt war und diesen nun abbaut. Das zu wissen, ist für Reiter und Trainer sehr hilfreich, um stressverursachende Reize im Training zu identifizieren.
Irrtum 3: Ein ruhiges Pferd ist auch entspannt
Längst nicht immer werden Pferde unruhig, wenn sie Stress haben. "Wie die Tiere mit Stress umgehen, ist sehr individuell", sagt Pferdewissenschaftlerin Dr. Vivian Gabor.

Wer ruhig steht, muss längst nicht immer ruhig sein
Neben Pferden, die ihre Anspannung eher nach außen tragen oder erstarrt stehen bleiben, gibt es auch solche, die auf den ersten Blick entspannt wirken, obwohl sie innerlich sehr aufgeregt sind.
Diese Pferde werden wissenschaftlich als "passive Bewältiger" bezeichnet. Grund für ihr Verhalten ist oft, dass sie durch ständige Überreizung abgestumpft sind. "Sie haben sich über einen längeren Zeitraum an die Situation gewöhnt und sind habituiert", erklärt Dr. Gabor.
Scheinbare Ruhe unter Stress kann auch auf erlernte Hilflosigkeit und Depressionen hindeuten. Kleine Signale machen deutlich, wie es einem Pferd wirklich geht: "Achten Sie auf Falten um die Augen und Nüstern. Sind diese zu erkennen, ist das ein Anzeichen für Anspannung", sagt Gabor.
Ein angewinkteltes Hinterbein zeigt nicht immer Entspannung
Andrea Kutsch weist darauf hin, dass sich diese Haltung auch bei Pferden in angespannten Situationen beobachten lässt und dann eine erhöhte Fluchtbereitschaft signalisiert.
"Viele Menschen deuten diese Geste fälschlicherweise als Entspannungszeichen und sind überrascht, wenn es plötzlich zu einer Abwehrreaktion kommt. Ein angewinkeltes Hinterbein sollte deshalb nicht isoliert vom Rest des Körpers betrachtet werden", meint die Expertin für wissenschaftlich basierte Pferdekommunikation.
Gähnt ein Pferd im Training ist es in der Regel nicht müde
"Gerade beim Reiten handelt es sich häufig um eine Übersprungshandlung, die Stressabbau signalisiert", erklärt Gabor. Befindet sich ein Pferd zwischen zwei Antrieben, kann es zum Beispiel nicht fliehen, obwohl es gerne würde, ist diese Geste zu beobachten. Sie kann aber auch auf Schmerzen hindeuten, vor allem wenn sie beim Putzen oder im Training häufig auftritt.
Fazit
Nicht jedes ruhige Pferd ist entspannt. Gerade in schwierigen oder fürs Pferd neuen Situationen müssen Reiter besonders auf kleine Änderungen in Mimik und Gestik achten und diese mit Blick auf die Pferdepersönlichkeit deuten. Denn selbst typische Entspannungszeichen wie ein entlastetes Hinterbein sind keine verlässlichen Indikatoren für Ruhe.
Irrtum 4: Nervöse Pferde brauchen viel Zeit im Training
"Natürlich gibt es Pferde, die typbedingt schneller nervös werden als andere", sagt Verhaltenstierärztin Ruth Herrmann. "Es gibt aber noch viele weitere Ursachen für unruhiges Verhalten." Statt nervösen Pferden grundsätzlich mehr Zeit im Training zu geben, rät die Expertin betroffenen Besitzern, zunächst den Grund für die Nervosität herauszufinden: Ist das Bewegungsbedürfnis des Pferds gestillt? Können körperliche Gründe und Schmerzen ausgeschlossen werden? Fühlt es sich unwohl, weil es Signale nicht versteht?
Auch Horsemanship-Trainer Ralf Heil betont, dass sich viele Pferde gar nicht aufgrund ihrer ängstlichen Persönlichkeit nervös verhalten.

Unterforderung als Ursache für Nervosität

Das klingt zunächst paradox. "Immer wieder kommen Reiter zu mir, deren Pferde häufig gestresst sind. Obwohl sie im Training darauf achten, ihre Pferde nicht zu überfordern, bessert sich das Verhalten nicht", erzählt der 3-Sterne-Parelli-Instruktor.
Heil macht sich mithilfe der "7 Spiele" selbst ein Bild von der Pferdepersönlichkeit und beobachtet genau, wie sich das Pferd ihm gegenüber verhält: Ist es eher aufdringlich oder weicht es auf kleine Signale hin zurück? Reagiert es temperamentvoll und schnell oder ist es zurückhaltend? Handelt es eher intuitiv oder denkt es nach? Die Erkenntnisse, die Heil dabei gewinnt, decken sich in vielen Fällen nicht mit der Einschätzung der Besitzer.
Nervöse Pferde entpuppen sich erstaunlich oft als dominant
"Anzeichen dafür kann ein aktiver Einsatz der Vorhand sein, etwa Stampfen mit den Vorderbeinen. Oder unwilliges Kopfschlagen, wodurch mir die Pferde ihre Unzufriedenheit verdeutlichen", beschreibt Heil. Unsicherheit hingegen äußert sich anders, etwa über defensive Körpersprache. Nervosität wird sich bei selbstsicheren Pferden nicht durch mehr Zeit im Training verbessern, da sie sich schnell langweilen und eigene Ideen entwickeln.
Weil viele Reiter jedoch nur den Charakter als Ursache von Nervosität in Betracht ziehen, wählen sie fürs Training nervöser Pferde oft den falschen Weg. Das kann sich für alle Beteiligten dramatisch auswirken. "Wenn Reiter sich in ihrem Pferd so massiv täuschen, kann das zu Missverständnissen, noch mehr Stress und im schlimmsten Fall zu Unfällen führen", warnt Ralf Heil.
Fazit
Nervosität und Unsicherheit sind nicht zwingend charakterbedingt, sondern haben häufig ganz andere Gründe wie unbefriedigte Grundbedürfnisse oder Unterforderung. Je intensiver sich Pferdebesitzer mit der Persönlichkeitsstruktur ihres Tiers beschäftigen, desto leichter lässt sich dieses Verhalten ändern.
Schlaue Pferde – was sie wirklich können – CAVALLO Im Gespräch mit Prof. Dr. Konstanze Krüger
Reiter wissen es schon lange – Pferde haben erstaunliche mentale Fähigkeiten. Man denke nur mal an Riegel vor Boxen oder Futterkisten, die von unseren Vierbeinern geöffnet werden. Pferde lernen vor allem durch Beobachtung von anderen Herdenmitgliedern oder auch uns Menschen. Diese Gewitztheit fasziniert auch Forscher: In der ersten Folge unseres CAVALLO-Podcasts unterhalten wir uns mit Konstanze Krüger, Professorin für Pferdehaltung an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen, über die mentalen Fähigkeiten von Pferden. Denn in ihrem Buchprojekt "The Beautiful Equine Mind" sammelt die Forscherin genau solche Erlebnisse und erklärt, was hinter den geistigen Fähigkeiten der Pferde steckt.
Du kannst den Podcast entweder gleich unten auf dieser Seite anhören oder zum Start auch bei Spotify, Apple Podcasts / iTunes, Acast, AudioNow und Deezer sowie nach und nach in vielen anderen Podcast-Apps und Verzeichnissen.