Die Bürste kreist langsam und liebevoll über das warme Fell des Ponys. Die Schule, der Lärm des Tages scheint vergessen, Gelassenheit und Konzentration kehrt ein. Kein anderes Freizeitprogramm hat einen derart beruhigenden Effekt auf Kinder wie das Putzen eines Pferdes. Und tatsächlich passiert auf Körperebene dabei eine Menge: Stresshormone bauen sich messbar ab, der Blutdruck sinkt und die Herzfrequenz wird ruhiger. Das Kuschelhormon Oxytocin, ausgeschüttet bei Berührung, macht's möglich. Was Pferdefreunde längst wissen, bestätigt inzwischen auch die Forschung: Pferde sind Lebenshelfer mit der Lizenz zum Glücklichmachen. Doch es ist noch viel mehr, was Kinder und Jugendliche – neben dem Reiten – bei und von Pferden lernen können.
Stallarbeit erzieht zu mehr Sozialkompetenz
Balance zu halten zum Beispiel – auf ihrem Rücken, aber auch emotional. Wer den Kontakt richtig angeht, wird mit Selbstvertrauen und Zuversicht belohnt. Und während sie uns buchstäblich durchs Leben tragen, erziehen Pferde-Pflege und Stallarbeit zu mehr Verantwortung und Sozialkompetenz. Das ist nicht neu. Schon Xenophon fand vor gut 2 400 Jahren, Reiten sei die Erziehung von Geist und Körper. Und seitdem gaben ihm viele Studien Recht.
Doch warum haben ausgerechnet Pferde so viel Einfluss auf uns? "Anders als Hunde sind Pferde zum Überleben aufeinander angewiesen. Deshalb", sagt Agrarwissenschaftlerin Christina Münch aus Schlieben, "entwickelten sie in der Herde ein hochkomplexes Sozialgefüge und eine ausgefeilte Kommunikation." Für Münch ist klar: Sie bringen uns wieder mehr in Kontakt mit uns selbst, mit anderen und auch mit der Natur. Alles wichtige Faktoren, um in der modernen Welt mental gesund zu bleiben.
Vor zehn Jahren gründete Münch die Initiative "Pferde für unsere Kinder", damit möglichst viele Kleine – ganz unabhängig vom Geldbeutel der Eltern – vom Kontakt mit Pferden profitieren. Beispielsweise stärkt der Mikrokosmos rund ums Pferd bei uns die Antennen für nonverbale Kommunikation. Denn nicht vergessen: Mit einem Anteil von gerade mal sieben Prozent sind Worte in der Kommunikation nichts als ein Detail. Den Löwenanteil der Information vermitteln unsere (meist unbewusst) gesendeten Körpersignale. Pferde erkennen sie sofort. An unserer Stimmlage, unserem Körpertonus oder dem Schrittmuster auf der Stallgasse lesen sie ab, wie es uns gerade geht. Wer kann das von seinem Fußball oder Tennisschläger schon behaupten?
Pferden ist egal, ob jemand gut im Diktat ist
Im Umgang fordern Pferde klare, verlässliche Signale und stehen umgekehrt prompt Rede und Antwort. Ihr Feedback kommt wie ein Spiegelbild (manchmal auch wie ein Bumerang) zu uns zurück und gerade das hilft Heranwachsenden, ihre Sinne zu schärfen und nonverbale Signale besser zu deuten.
Für Henrich Berkhoff von der Green Care Farm im westfälischen Ahlen ist es immer beeindruckend, wie gut sich Kinder auf seinem Hof pädagogisch einfangen lassen. Warum das so ist, erforscht er an der Alanus Universität Bonn derzeit mit einem Lehrforschungsprojekt. So viel kann er verraten: Bewegung spielt beim Lernen eine Schlüsselrolle. Aber auch gelingende Kommunikation: "Pferden ist egal, ob jemand gut im Diktat ist oder nicht. Solange wir sie pferdeverständlich ansprechen, arbeiten sie mit uns." Dann lassen sie sich bereitwillig halftern und durch einen Parcours lotsen. Ein Erfolgserlebnis, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten weckt, glücklich und ein bisschen dankbar macht.

Wer mit Pferden umgeht, fühlt sich in deren Haut ein und richtet die Fühler beinah automatisch sensibel auf die Umwelt.
Dieser nonverbale Draht zum Tier sorgt immer wieder für kleine Wunder. Etwa, wenn autistische, bisher "sprachlose" Kinder bei Berkhoff nach Jahren plötzlich mit Sprechen beginnen. Genau wie solche Kinder mit Einschränkungen, profitieren gesunde Jugendliche von der analogen Welt im Stall. Coole Apps? Nutzen beim Pferd nichts. Wir müssen selbst sensibel wahrnehmen und übersetzen lernen, was die zusammengekniffene Oberlippe, das flach angelegte Ohr oder der aufgerichtete Schweif bei diesem Pferd in diesem Kontext gerade bedeuten.
Kinder brauchen dafür allerdings Zeit. Lange Schultage machen es schwerer als früher, ganze Nachmittage beim Pferd zu vertrödeln. So beobachten Reitlehrer, dass Kinder zwar zur Stunde kommen, aber kaum Muße haben, dem Pferd danach – ohne Handy in der Hand – bewusst beim Grasen zuzusehen. "Nach dem Reiten ist vor der Geigenstunde", bringt ein Stallbesitzer aus Fellbach bei Stuttgart es auf den Punkt.
Für Reitpädagogin Sylke Borchers aus Hude in Oldenburg ist das Drumherum fast wertvoller als die Zeit auf dem Pferd selbst. Gerade was das soziale Lernen betrifft. "Manche Kinder wollen alles ganz schnell machen. Sie kommen mit einer Energie auf die Weide gestampft und wollen zack, zack die Ponys holen. Aber die", erzählt Borchers lachend, "verziehen sich in die hinterste Ecke und es dauert doppelt so lange." Beim nächsten Mal schleichen die Kinder wie verwandelt auf Samtpfoten zur Koppel. Lektion gelernt, ohne Ermahnung ohne Schimpfen. Wer mit Pferden umgeht, fühlt sich in deren Haut ein und richtet die Fühler beinahe automatisch sensibel auf die Umwelt, um mögliche Gefahren im Vorfeld zu erkennen: Nicht rennen, nicht zu dicht am Nachbarpferd vorbei, den Hund im Auge behalten. Im Idealfall nutzt man die geschärfte Wahrnehmung auch, um nach innen zu spüren. Die gehetzten Schritte noch vor der Stallgasse bewusst in einen entspannten Gang zu ändern, auf die Atmung achten und versuchen, mitgebrachte Sorgen vor der Stalltür zu lassen. Dann kann man unbeschwerten Kontakt mit dem Pferd knüpfen.
Auf der Green Care Farm von Henrich Berkhoff sammeln Kinder auf der Obstwiese emsig Fallobst, zwei andere balancieren randvolle Wassereimer auf der Schubkarre und eines schleppt Heuballen über den Hof. Es geht Berkhoff nicht darum, seine tägliche Arbeit auf diverse Schultern zu verteilen. Der eigentliche Sinn ist, dass seine Helfer sich oft zum ersten Mal im Leben gebraucht und als wertvollen Teil der Gemeinschaft fühlen: "Dieses Pferd hat jetzt frisches Wasser, weil ich es ihm gebracht habe." Selbstwirksamkeit nennen Psychologen das theoretische Konzept rund um das gute Gefühl, etwas aus eigener Kraft bewirken zu können.
Pferde helfen durch turbulente Teenagerjahre
Vielleicht ist genau das der Grund, warum Imre Zoltán Pelyva von der Universität in Pecs in Ungarn in seiner Studie mit 525 Teenagern den Stall als Keimzelle der Hilfsbereitschaft entdeckte. Seine vier Jahre dauernde Untersuchung ist eine der wenigen mit großer Teilnehmerzahl und ganz "normalen" Jugendlichen. Die Gruppe, die in der Freizeit regelmäßig Kontakt zu Pferden hatte und dabei Stallarbeit verrichtete, schnitt bei Tests sozialkompetenter ab als die Kontrollgruppe ohne Pferdekontakte. Und zwar um den Faktor vier. Die Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren zeigten mehr Empathie, waren hilfsbereiter und psychisch gesünder. Die Botschaft dahinter ist klar: Pferde tragen auch durch turbulente Teenagerjahre.
Dafür braucht es aber das richtige Umfeld und Lehrer, die kompetente Unterstützung bieten. Pferdewirtschaftsmeister Axel Schmidt, Leiter des Reitinstituts Egon von Neindorff in Karlsruhe, zitiert gerne seine Partnerin Wally Monn: Pferde sind wie Brenngläser, sie vergrößern das Gute im Menschen – können aber auch schlechte Eigenschaften zum Vorschein bringen. Gemeint sind Neid, Ehrgeiz und Gewalt. Deshalb leiten die Trainer in Karlsruhe schon die Kleinsten im Ferienreitkurs zu respektvollem Umgang an. Trainerin Britta Johanning: "Vom Zeitgeist der Selbstoptimierung halten wir hier wenig. Im Gegenteil, die scheinbar altmodischen Werte wie Sorgfalt, Geduld und Selbstbeherrschung lohnen sich im Umgang mit Pferden und zahlen sich langfristig für Pferd und Mensch aus." Dazu zählt auch, die eigenen Bedürfnisse für das Pferd hinten anzustellen. Wenn Kinder und Jugendliche diese Lektion verinnerlichen, dann haben sie tatsächlich viel fürs Leben gelernt.
Wie die Onlinewelt das echte Leben erschwert
Forscher der Universität Malmö fanden heraus, dass jugendliche Reiter in Schweden bevorzugt, Social Media Inhalte klicken, die das Stallleben tagtäglich nur von seiner Schokoladenseite zeigen: schicke Outfits, tolle Pferde, viele Schleifen.
Obwohl die Jugendlichen aus ihrem eigenen Alltag mit Pferden wissen, dass diese Bilder nur eine Scheinwelt zeigen, ahmen sie diese Vorbilder bei ihren eigenen Posts nach. Aus Angst vor negativen Kommentaren posten sie im Netz ebenfalls nur Bilder, die dieser Norm entsprechen. Die Online-Parallelwelt hat Auswirkungen auf das echte Leben: Weil sich die Masse an geschönten Bildern im Sattel nur schwer abschütteln lässt, leiden viele Jugendliche unter Selbstzweifeln.

Wer sich zu sehr in der virtuellen Scheinwelt bewegt, leidet irgendwann an Selbstzweifeln.
Jeder Klick ein Kick: Jeder Aufruf eines Reels oder eines Tiktok-Beitrags setzt im Gehirn eine kleine Menge Dopamin frei. Dieser Botenstoff macht glücklich und wird im wirklichen Leben nur als Belohnung nach Anstrengung freigesetzt. Das macht Social Media so erfolgreich und Menschen so abhängig von der Nutzung. Weiterer Nebeneffekt der intensiven Handynutzung: Jugendliche haben mehr Schwierigkeiten, Notfälle oder gefährliche Situationen korrekt zu beurteilen, weil sie Stress-Signale der Körpersprache nicht mehr richtig einschätzen können. Grund genug, den Stall zur handyfreien Zone zu erklären!
Kommentar von Anja Häussermann, CAVALLO- Autorin:
Zwischen Misthaufen, Pferd und Schule lernte ich als Kind Verantwortung zu tragen, meine Zeit zu managen und natürlich Freundschaften zu schließen. Die Gruppe Stallmädchen, die damals beim Heuabladen, Ausreiten und Gesundpflegen kranker Pferde aufeinander zählte, ist vielleicht gerade deshalb bis heute ein Top-Team: Eine Stallfreundin von damals ist inzwischen die Patentante meiner Kinder, die andere meine Schwägerin. Dass die Pferde-Connection einmal solche Folgen haben würde, konnte ich mir mit 12 nicht vorstellen.