Pferdeverhalten in der Herde
Sind Pferde rassistisch?

Isis bleiben unter sich. Schimmel sind Außenseiter. Shettys zu klein, um Kumpel zu sein. Pferde grenzen Artgenossen aus und das lässt sich erklären.

Verhaltendebatte - Sind Pferde Rassisten?
Foto: Lisa Rädlein

Das ehemalige Sportpferd war außer sich! Es beäugte ängstlich die neuen Mitbewohner im Offenstall: Vor dem Warmblut standen zwei Shettys. So kleine Artgenossen hatte der Schimmel noch nie gesehen. Der Riese ergriff die Flucht. Schnell weg! Die Zwerge waren ihm nicht geheuer.

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Sind Pferde Rassisten?
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Pferde zeigen Vorlieben für bestimmte Rassen

Das ist kein Einzelfall: Pferde zeigen Vorlieben und Feindschaft gegenüber bestimmten Rassen, sortieren sich auf der Weide nach Farben und mobben sich sogar. Wer so etwas beobachtet, denkt oft insgeheim: Mein Pferd ist ein Rassist! Das passt doch nicht zu einem sozialen Tier, oder? "Doch", sagt Willa Bohnet vom Institut für Zoologie der Tierärztlichen Hochschule Hannover. "Rassismus ist im Tierreich sogar Alltag. Er kommt bei sozialen Säugetieren vor, die in Gruppen leben."

Ausgrenzendes Verhalten lässt sich erklären

Grund genug, das Phänomen genauer zu betrachten. So viel vorweg: Ausgrenzendes Verhalten unter Pferden lässt sich erklären – und dann klingt es auch gar nicht mehr so schlimm. Sozial sind die Tiere trotzdem. Rassismus ist ein Alltagsphänomen. Der Begriff beschreibt, dass Menschen andere Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder ihrer Herkunft benachteiligen. Das kann bewusst und unbewusst passieren. Rassismus kommt oft unterschwellig ins Leben und ist erlernt: Vorurteile helfen unserem Gehirn, effektiv zu arbeiten. Schublade auf, Person rein, Schublade zu – Gedanken geordnet.

Schon mit einem Jahr fangen Babys an, in Schubladen zu denken. "Sie ordnen Personen, Dinge und Situationen in bekannt und unbekannt ein", sagt Willa Bohnet. Dazu empfiehlt sie das Buch "Mein Hirn hat seinen eigenen Kopf" von Dong-Seon Chang. Der Neurobiologe erzählt folgende Geschichte: Sein einjähriger Neffe nahm ein Geschenk von der französisch sprechenden Tante nicht an. Die Sprache klang offenbar zu fremd, das erzeugte Skepsis. Der Onkel hingegen sprach das Kind in dessen Muttersprache an, schon nahm es das Geschenk entgegen.

Pferde bevorzugen das Gewohnte

Auch Pferde bevorzugen das Gewohnte. "Als Beute – und Fluchttier sichert Gewohntes das Überleben. Ungewohntes bedeutet Gefahr", erklärt Biologin Dr. Sandra Löckener. Besonders die Zeit als Fohlen und Jungtier prägt, was als positiv oder negativ gespeichert wird. So können Vorlieben für Fellfarben entstehen.

Bei Wildpferden sehen sich die Tiere in einer Herde oft ähnlich: Przewalski-Pferde sind alle sandfarben, Dülmener Wildpferde grau. Die optische Gleichheit schützt. Das einzelne Tier verschwimmt für Raubtiere in der Masse.

Auf Andersartigkeit reagieren Pferde mit Flucht oder Angriff

Auch domestizierte Pferde wachsen beim Züchter häufig unter Artgenossen der gleichen Rasse auf, die ähnlich aussehen. Darauf sind sie dann meistens positiv geprägt. Wächst ein Fohlen etwa in einer reinen Friesen-Herde auf, ist seine Welt schwarz. Aber was passiert, wenn ein so aufgewachsenes Fohlen auf andere Rassen trifft? "Auf Andersartigkeit reagieren Pferde meistens mit zwei Möglichkeiten: Flucht oder Angriff", erklärt Dr. Willa Bohnet. Sieht das Fohlen erstmals einen Schimmel, ist es wahrscheinlich irritiert. Auch andere äußere Merkmale können Unsicherheit auslösen: eine Stehmähne vom Norweger etwa. Oder die hervorstechenden Augen eines Vollblutarabers. Beim Friesen ist ein großer Teil des Gesichts unter dem Schopf versteckt. Eine ausgeprägte Mimik muss so ein Pferd erst deuten lernen.

Erstmal Sichtkontakt ermöglichen hilft

Dass die Konfrontation mit fremdartigem Aussehen eskalieren kann, erlebte Dr. Willa Bohnet. Ihre Pferde leben in einer stabilen Kleingruppe im Offenstall. Doch eines Tages im Sommer war alles anders. Die Biologin legte ihrem Rappen Flash eine neue Zebradecke gegen die Bremsen auf. Als sie Flash zurück auf die Weide brachte, kam ihr Senioren-Pony Niko aus dem Stall. Der blieb stehen, stutze – und schoss dann ohne Vorwarnung auf seinen Freund mit der Zebradecke los. "Flash wusste gar nicht, wie ihm geschah – und warum sein Kumpel plötzlich wütend auf ihn war. Zum Glück war ich da und konnte die Pferde trennen", erzählt die Biologin. Sie ging vor den Augen des Seniors zu dem Zebra-Pferd, streichelte es und sprach mit freundlicher Stimme. Niko sollte sehen, dass alles okay war. Der Senior blieb noch eine Weile skeptisch. Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, dann hatte er sich beruhigt.

Willa Bohnet hat aus der Erfahrung gelernt – auch für die Integration neuer Pferde. Sie rät: Immer erst reinen Sichtkontakt ermöglichen. Auch auf Fohlen und Shettys kann es Angriffe geben, wenn Artgenossen noch nie so kleine Tiere gesehen haben.

Sind Schimmel Außenseiter unter Pferden?

Aggressives Verhalten zeigt sich auch oft gegenüber Schecken und Schimmeln. Sie gelten als Außenseiter. "Wenn ich früher mit Jungpferden in der Halle war und ein Schimmel oder Falbe auftauchte, fanden viele Pferde das unangenehm", erinnert sich Dr. Sandra Löckener. Laut der Ausbilderin habe sich das heute verändert. Womöglich, weil es in der Zucht mehr Farbvielfalt gibt und Pferde durch die vermehrte Gruppenhaltung auch mehr Farben kennenlernen. Machen Pferde in ihrer Jugend viele positive Erfahrungen mit Artgenossen verschiedener Rassen, ist Vielfalt etwas Vertrautes.

Verhaltendebatte - Sind Pferde Rassisten?
Lisa Rädlein
Weg da! Schimmel erfahren Feindseligkeit, wenn ihre Farbe anderen Pferden unbekannt ist. Das ist heute selten der Fall, weil die Farbe verbreitet ist.

Aber sind Schimmel und Schecken nicht verräterisch für die Herde, weil ihre Farbe Fressfeinde anlockt? "Ob eine helle Farbe auffällt, kommt ja auf den Hintergrund der Landschaft an. Das lässt sich gar nicht pauschal sagen", meint Willa Bohnet. Im Wald fällt ein Schimmel auf, vor hellem Himmel nicht so. Beim Schecken und bei gefleckten Kühen sind durch den Kontrast die Außenkonturen schlecht erkennbar, das kann irritieren.

Pferde teilen nach Erfahrungen und auch nach Sympathie ein, wer Freund und Feind ist. Aktivstall-Betreiberin Katharina von Lingen beherbergt seit über 17 Jahren drei gemischte Gruppen. Bei ihr leben 47 Pferde in allen Farben und Größen.

Dass Pferde sich farblich auf der Weide sortieren – davon habe sie schon gehört. Aber in ihrem Stall könne sie das nicht beobachten. "Eher sehe ich, dass Pferde enge Bande knüpfen, wenn sie viel Zeit miteinander verbringen." Sie kennt nur ein Pferd, das ein Faible für Füchse entwickelte – wahrscheinlich, weil ein langjähriger bester Kumpel Fuchs war.

Sind Islandpferde rassistisch?

Ob ein Pferd gemocht oder gemobbt wird – das ist oft eher eine Frage des Typs. Katharina von Lingen beobachtete in ihren Herden: Lässt sich ein Tier besonders leicht wegschicken, ist es als Opfer prädestiniert. Das Verhalten animiert andere Pferde, das Tier zu scheuchen. Geht ja auch so leicht!

Apropos Ausschluss von Pferden: Islandpferde gelten oft als rassistisch. Die bleiben besser unter sich, heißt es. Was ist da dran? "Bei uns haben die Pferde eine große Auswahl an Freunden – und die Isis sind voll integriert", meint Katharina von Lingen.

Was allerdings zutreffe: Pferde suchen sich gerne Freunde gleichen Typs. Isis sind oft temperamentvoller als etwa Norweger. Tiere der gleichen Rasse passen oft vom Ruhe- und Bewegungsbedürfnis gut zusammen. "Isländer etwa haben zudem eine geringere Individualdistanz als andere Rassen. Viele sind gerne dicht zusammen. Das kann andere irritieren – muss es aber nicht", sagt Biologin Sandra Löckener. Wie unterschiedlich die Typen einzelner Rassen sind, führte eine krasse Geschichte auch Ausbilderin Andrea Jänisch vor Augen: Sie rettete vor vielen Jahren vier ausgebüxte Pferde, die auf einen zugefrorenen See gelaufen waren. Die zwei Isländer waren nur fünf Meter aufs Eis gelaufen und dann stoisch stehengeblieben. Die zwei Vollblüter hingegen liefen immer weiter mitten auf dem See, brachen ein – und versuchten trotzdem noch zu laufen. "Das war ein groteskes Bild und führte mir vor Augen, wie tief bestimmte Eigenschaften in den Rassen verankert sind."

Je mehr Erfahrungen, desto offener

Der andere Takt von Gangpferden beim Tölten kann auch zu Feindseligkeiten führen. Das erlebte CAVALLO-Chefredakteurin Linda Krüger: Für ihre Ausreit-Gruppe mit einem Quarter Horse, einem Freiberger und einem Isi hieß es schon bald: Ende im Gelände. Die Freiberger-Stute zeigte sich von vornherein aggressiv gegenüber dem Isi. "Wir vermuteten, dass es an dem schnellen Takt und der hohen Halshaltung lag, die das Pferd als Alarmzeichen deutete", erzählt sie. Ihre Quarter-Stute wurde ebenfalls zusehends nervöser in Gegenwart des Isis. Sie passte sich dem Verhalten der Freiberger-Stute an, die Herdenchefin war. Das muss aber nicht für immer so bleiben.

Pferde sind lernfähig. Denn: Sie sind generell an Sozialpartnern interessiert. Und so können Erfahrungen auch umprogrammiert werden. "Je mehr positive Erfahrungen Pferde sammeln, desto offener werden sie", sagt Sandra Löckener.

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Erscheinungsdatum 17.05.2023