"Das ist ein großartiges Pferd", "ist der nicht schön?" oder "diese Stute ist eine ganz tolle" – in weichem Tonfall und mit glänzenden Augen erzählt Andrea Bethge beim Stallrundgang von ihren Lieblingen. An jeder Box, egal ob von einem eigenen oder Kundenpferd bewohnt, glaubt man, dass hier das schönste und beste Pferd des Planeten steht. Und das ist auch so – zumindest in den Augen der Dressurtrainerin aus Rehburg-Loccum in Niedersachsen. Für die Ausbilderin ist jedes Pferd ganz besonders und in seiner Art das Allerbeste.
Pferdliebe plus sportlicher Erfolg

Das klingt nach rosa Wendy-Welt, Ponyromantik und Streicheleinheiten statt Training. Doch bei Andrea Bethge geht diese Pferdeliebe selbstverständlich zusammen mit höchstem sportlichem Erfolg. Im August 2014 bekam sie das Goldene Reitabzeichen verliehen und stieg in die Turnierleistungsklasse D1 auf. In dieser höchsten deutschen Leistungsklasse waren im Jahr 2013 laut FNStatistik gerade einmal 101 Reiter verzeichnet. Man kann also sagen, dass Andrea Bethge derzeit zu den Top 100 der deutschen Dressurreiter gehört.
Dabei helfen ihr weder große Sponsoren noch talentierte Spitzenpferde. Stattdessen gewinnt Bethge ihre Schleifen mit Pferden, die durch ihr Temperament oder ihre körperlichen Probleme ganz besondere Herausforderungen sind. Sie beweist so, dass man auch sanft und mit glücklichen Pferden ganz oben aufs Treppchen kommen kann. "In meinem Umfeld hieß es früher, dass wenn es um Leistung geht, nicht mehr geflüstert wird", sagt Bethge. "Aber das ist falsch. Ich möchte den Menschen zeigen, dass man auch auf feine Art erfolgreich sein kann."
Dafür geht Andrea Bethge mit bestem Beispiel voran. Ihr Grand-Prix-Pferd Waikato ist alles andere als ein Selbstfahrer. Der 14-jährige Hannoveraner ist hoch sensibel, extrem schreckhaft und gelegentlich auch auf Krawall gebürstet. "Es kam früher schon mal vor, dass er versucht hat, mich an der Hallenbande abzustreifen", erzählt Bethge. Hinzu kommt, dass Waikato sich bei einem Sturz vor sieben Jahren schwer an Becken und Wirbelsäule verletzte. Es war völlig unklar, ob er je wieder reitbar werden würde. Doch mit Geduld und klugem Training brachte Andrea Bethge ihn nicht nur zurück in den Sport, sondern auch regelmäßig in die Siegerlisten von schweren Dressuren.
Das gelang, weil Bethge Pferde nicht nur sehr liebt, sondern auch geduldig und beharrlich ihre Ziele verfolgt. Alles, was die heute 44-Jährige anfasst, macht sie sehr gründlich. "Ich will die Zusammenhänge und Hintergründe aller Dinge, mit denen ich mich befasse, ganz genau kennenlernen, um sie wirklich zu verstehen. Deswegen gilt für mich die Devise: ganz oder gar nicht."
Erst mit 14 Jahren darf sie zum ersten Mal aufs Pferd
Dass ihr Lebensthema einmal Pferde und die feine Dressur sein würde, war der Niedersächsin nicht in die Wiege gelegt. Sie musste 14 Jahre alt werden, um überhaupt in den Sattel steigen zu dürfen. "Zur Konfirmation bekam ich einen Reiturlaub geschenkt, weil ich zuvor die Verwandtschaft endlos genervt hatte", erzählt Andrea Bethge.
Bei Wolfgang Marlie in Schleswig-Holstein knüpfte die Schülerin erste Pferdekontakte. Der Ausbilder ließ Andrea Bethge spüren, wie fein Pferde und Menschen harmonieren können. Weiter ging es in Reitvereinen, mit 16 bekam sie ein eigenes Pferd und begann, Turniere zu reiten.
Daneben betrieb das Multitalent andere Sportarten wie Tennis oder Leichtatlethik. Im 100-Meter-Sprint war sie so gut, dass sie 1996, mitten im Studium, nur knapp die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Atlanta verpasste.
Doch was Andrea Bethge am meisten interessierte, waren die Pferde. Deshalb legte sie nach dem Abitur ein Praktikumsjahr in einem Dressurstall ein. Danach begann sie, Wirtschaftswissenschaften zu studieren, wechselte später zur Medizin und tauchte doch immer tiefer in die Welt der Pferde ein. "Ich liebte mein Studium und die Idee, einmal Ärztin zu werden. Doch irgendwann merkte ich, dass ich nur eins wirklich gut machen konnte – entweder eine hervorragende Ärztin sein oder eine Reiterin mit Leib und Seele", sagt Andrea Bethge.
Im Jahr 2000 hängte sie das Studium deshalb an den Nagel und machte sich als Trainerin selbstständig. "Wenn ich zurückschaue, weiß ich, dass ich schon einige Jahre vorher nicht mehr wirklich studiert habe. Ich verbrachte viel mehr Zeit im Sattel als im Hörsaal", sagt die Ausbilderin.
Sie entscheidet aus dem Bauch und oft gegen Ratschläge

Mit der Exmatrikulation hat das Lernen für Andrea Bethge allerdings kein Ende. Im Gegenteil – sie hat nur ihre Studienobjekte gewechselt. Anstelle von Menschkörpern und Krankheiten widmet sie sich Pferden und Reitern. "Aus jeder Begegnung und Situation gewinne ich neue Erkenntnisse, die meine Arbeit bereichern", sagt Andrea Bethge. Auch Tipps und Ideen von Kollegen baut sie ein. Nur einen echten Lehrer oder ein großes Vorbild hatte die Trainerin nie: "Ich suchte meinen Weg oft aus dem Bauch heraus und machte manches anders, als es mir von Experten geraten wurde."
Das Wissen aus Leistungssport und Studium hilft zusätzlich, Lösungen für verzwickte Probleme zu finden. "Nur wer weiß, wie Pferde in Kopf und Körper funktionieren und ihre ganz individuellen Bedürfnisse berücksichtigt, kann den optimalen Weg für ein Pferd und seinen Reiter finden", meint Bethge. Neben einer guten Ausbildung ist für sie deshalb auch die richtige Haltung zentral. "Bei mir gehen alle Pferde täglich in Gruppen auf die Weide, auch wenn sie im Sport aktiv sind", sagt die Ausbilderin. "Nur so sind sie zufrieden und ausgeglichen. Und das ist die absolute Voraussetzung für ein stressfreies und erfolgreiches Training."
Pari will immer noch mit aufs Turnier – also darf er starten

Weil da alles stimmt, wachsen die Pferde unter Andrea Bethges Regie schier über sich hinaus. So wie ihr Herzenspferd, der inzwischen 20-jährige russische Warmblüter Paritjätt. Dessen labile Psyche stellte die Trainerin vor viele Herausforderungen (siehe Unterseite "Mein Härtefall"). "Doch durch ihn habe ich auch extrem viel gelernt", sagt Bethge. Ihren Einsatz dankt ihr der Wallach durch Sporterfolge bis ins hohe Alter. 2013 war er in Grand-Prix-Prüfungen platziert. Und auch 2014 durfte er starten. "Pari will immer noch mit aufs Turnier, also nehme ich ihn mit. Allerdings erwarte ich nicht wirklich, dass wir Schleifen mit nach Hause bringen", sagt Andrea Bethge.
An Waikatos Erfolge hätte nach dem bösen Unfall ebenfalls niemand mehr geglaubt. Neben Geduld und Einfühlungsvermögen war es hier vor allem das gesunde Training mit konsequenter Dehnung der Oberlinie, das den hübschen Fuchs wieder fit fürs Viereck machte (siehe Abatz "Meine Lieblingslektion").
Ob stumpf, überdreht oder extrem ängstlich – Andrea Bethge kümmert sich neben den normalen Pferden auch um Tiere, bei denen keiner mehr weiter weiß. Manche bleiben auf Dauer – zum Beritt oder in ihrem Besitz. "Mehr eigene Pferde sind nicht mehr drin. Aber für neue Kunden finde ich immer eine Möglichkeit", sagt die Ausbilderin.
Was sie bei ihren Pferden lernt, gibt Andrea Bethge an ihre Schüler weiter. Gerne auch vor großem Publikum wie etwa bei der Messe "Pferd & Jagd" in Hannover. Im CAVALLO-Ring konnten Besucher im Jahr 2013 miterleben, wie feine Hilfen aufgeregte Pferde in kooperative Sportler verwandelten. Auch 2014 ist Andrea Bethge im CAVALLO-Ring vertreten.
Schon viele Reiter haben davon profitiert. Zum Beispiel Nadine Rohde. Ihre Stute Luna war ein harter Brocken. "Gleichzeitig hypersensibel und ignorant, immer zu schnell unterwegs und sehr explosiv", beschreibt Andrea Bethge die selbstbewusste Stute.
"Druck hilft bei solchen Pferden nicht, damit provoziert man nur Konfrontationen." Also überlistete Bethge zusammen mit der engagierten Besitzerin die Stute. "Wir begannen sanft, Luna an mehr Schenkelkontakt zu gewöhnen und ihr fast unbemerkt mehr Gehorsam abzuverlangen." Jede richtige Reaktion wurde sofort belohnt. "Natürlich muss man Pferde auch mal korrigieren", sagt Andrea Bethge. "Wichtig ist nur, dass wirklich auf jede Korrektur ein Lob folgt."
Die Trainerin vermittelt ihren Schülern zudem, beim Reiten weniger an die Technik von Hilfen und Lektionen zu denken. "Sie sollen mehr ihrem Gefühl vertrauen. Empathie ist für mich eine der wichtigsten Eigenschaften beim Reiten. Wer nicht versucht, mit seinem Pferd mitzufühlen, wird nie eine harmonische Partnerschaft erreichen."
Die Pferde zeigen es ganz klar – Liebe lohnt sich immer
Diese liebe- und verständnisvolle Haltung finden Pferde gut. Wenn Reiter auf ihre Bedürfnisse eingehen, steigen Motivation und Kooperation enorm. So wie bei Luna, die mit Nadine Rohde inzwischen nicht nur beim CAVALLO-Versuch zur Zügelmessung dabei war. Auch beim Turnier gab es schon Siegerschleifen in Klasse A. Luna zeigt es ganz deutlich: Liebe lohnt sich.
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Interview: "Pari reagiert wie ein psychotischer Mensch"
CAVALLO: Ein Pferd dazu zu bringen, sich vertrauensvoll und fein reiten zu lassen, ist oft nicht ganz leicht – gerade wenn es schon schlechte Erfahrungen unterm Sattel gemacht hat. Bei welchem Pferd war der Weg zur Harmonie bisher am schwierigsten?
Andrea Bethge: Ganz klar, das war und ist mein russischer Warmblüter Paritjätt, genannt Pari. Ich kaufte ihn im Jahr 2002 mit acht Jahren bei einem Pferdehändler, wo er seit zwei Jahren zum Verkauf stand. Ein Züchter, der mich damals begleitete, riet mir ganz energisch ab, doch ich hatte mich in den hübschen Kerl verguckt.
CAVALLO: Welche Probleme brachte Pari mit, was klappte nicht?
Andrea Bethge: Eigentlich ging gar nichts. Beim Reiten haperte es schon an den ersten Punkten der Ausbildungsskala. Ohne Takt und Losgelassenheit aber kommt man in der Dressur nicht weiter. Der Grund für diese Probleme ist aus meiner Sicht die Art, wie Pari die Welt wahrnimmt. Ich glaube, sein Verhalten ist mit dem eines psychotischen Menschen vergleichbar. Pari baut sehr schnell Spannung und Angst auf und reagiert dann sehr stark darauf. Dafür sind nur minimale Reize nötig, die viele Pferde nicht einmal wahrnehmen, geschweige denn stören würden. Pari ist zum Beispiel extrem bodenscheu. Reiten ist immer ziemlich schwierig, weil der Boden an jeder Stelle etwas anders aussieht und Pari jede Veränderung registriert und fürchtet.
CAVALLO: Trotzdem ist Pari inzwischen bis Grand Prix platziert. Wie geht das?
Andrea Bethge: Pari vertraut mir und ist bereit, seine Ängste für mich zu überwinden. Typisch ist ein Vorfall vor einigen Jahren: Im Stall war die Selbsttränke ausgefallen, die Pferde bekamen ihr Wasser in Eimern vorgesetzt. Pari ließ allerdings die Pfleger mit dem Eimer über Stunden nicht in seine Nähe. Ich musste selbst in den Stall fahren und ihn tränken. Dabei merkten wir, dass er unglaublich Durst hatte. Aber er hat lieber gedurstet, als die Nase in diesen suspekten Eimer zu stecken. Ich habe in den Jahren gelernt, immer besser zu verstehen, warum Pari sich wie verhält. Manchmal bin ich allerdings immer noch ratlos. Aber durch unsere gute Beziehung kann ich ihn aus seinen Angstzuständen befreien. Die meiste Zeit geht es ihm gut. Er fühlt sich in seiner Herde wohl, kommt auf der Koppel zu mir, nimmt beim Satteln das Gebiss freiwillig und fährt sogar gerne mit aufs Turnier.
CAVALLO: Was hat Ihnen Pari über Pferde im Allgemeinen beigebracht?
Andrea Bethge: Er hat mein Bewusstsein dafür geschärft, Pferde noch genauer zu beobachten. Außerdem habe ich gelernt, immer nach der Ursache für ein Verhalten zu suchen. Diese Ursachenforschung hilft mir auch bei meinen anderen Pferden und meinen Schülern, Problemen auf den Grund zu gehen und dann effektive Lösungen zu finden. Insofern kann ich sagen, dass Pari zwar die größte Herausforderung meines Reiterlebens ist, aber gleichzeitig auch mein größter Lehrer.
