Handarbeit als echtes Trainings-Plus
Die Handarbeit wird allzu oft zum Lückenbüßer – wenn das Pferd nicht geritten werden kann, wenn man mal weniger Zeit hat oder zum Aufwärmen nicht in den Sattel steigen möchte. Dabei hat sie das Potenzial, zur schönsten Nebensache des Reitens zu werden. Die Ausbilderinnen Anna Eichinger und Viktoria Portugal lieben es, ihre Pferde an der Hand zu trainieren. Denn am Boden eröffnet sich eine ganz neue Welt.
Vorteile der Handarbeit: Warum die Handarbeit so viel bringt
"Für mich und mein Pferd war die Handarbeit wie ein Schlüssel. Was unter dem Sattel noch nicht so gut klappte, konnte ich an der Hand wunderbar lösen”, erzählt Viktoria Portugal, die ihre Warmblut-Stute Amira nach der Akademischen Reitkunst ausbildet. Denn auf dem für viele Reiter so ungewohnten Terrain eröffnet sich eine neue Perspektive: "Das Gefühl im Sattel reicht oft nicht aus, um herauszufinden, wo gerade der Knackpunkt liegt, wenn etwas nicht gelingt. Am Boden können wir das, was wir gefühlt haben, mit dem verbinden, was wir sehen. Das hilft, besser zu verstehen, warum dem Pferd etwas schwerfällt. Und obendrein haben wir mehr Möglichkeiten, dem Pferd zu erklären, was wir von ihm möchten.”
Der Pluspunkt der Handarbeit: Sie konzentrieren sich auf Ihre Hand. Und die wird, je sicherer Sie sich mit Ihrem Pferd am Boden bewegen, zum Seismographen für dessen Bewegungen. Sie glauben, dass Sie so feine Antennen nie haben werden? "Wenn meine Schüler ihr Pferd das erste Mal in der Handarbeit führen, frage ich sie nur, was sie fühlen. Sie sind dann sehr erstaunt, was sie alles herausfinden können. Oft erleben sie schon erste Aha-Effekte, weil sie mit dem, was sie deuten, richtig liegen”, erklärt Anna Eichinger.
Fürs Pferd wiederum ist die Handarbeit eine tolle Schule, um den Reiter besser verstehen zu lernen. Zunächst alleine schon deshalb, weil Sie Ihre Hand viel feiner und bewusster einsetzen. Jungen Pferden können Sie an der Hand die Zügelhilfen erklären, ihnen zeigen, wie es sich korrekt stellen und biegen kann und in welcher Haltung es sich bewegen soll. So wird das unerfahrene Pferd schonend und ohne Gewicht auf dem Rücken auf das Reiten vorbereitet. Ist es dann zum ersten Mal unter dem Sattel, hat es bereits kleine Erfolgserlebnisse, weil es auf manches von dem, was es am Boden schon gelernt hat, bereits die richtigen Antworten kennt.
"Das erfahrene Pferd wiederum profitiert enorm von der Handarbeit, wenn sein Reiter sie als Analyse-Tool nutzt”, betont Anna Eichinger. Wer sein Pferd vor dem Reiten an der Hand arbeitet, spürt, ob es müde oder munter ist, ob es klar geht und wie gut es sich über den Rücken an die Hand herandehnen kann.
Nutzen Sie die Handarbeit auch als Ihr Ass im Ärmel für schwierige Trainings-Momente: Wenn etwa eine Lektion nicht gelingt, das Pferd auf eine Schulter fällt, sich festmacht, schwer auf dem Zügel wird oder sich entzieht, dann sitzen Sie einfach ab, schauen Sie, wo der Wurm sitzt, und zeigen Sie Ihrem Pferd, was es besser machen kann. "Handarbeit mit dem Pferd ist wie gemeinsames Tanzen. Wenn Sie gut geführt werden, könnten Sie den ganzen Abend durchtanzen”, so Viktoria Portugal. Wo Sie bislang Ihr Pferd in holprigen Momenten möglicherweise mit zu vielen Hilfen gleichzeitig überfallen haben, werden Sie lernen, kleine Stolpersteine zu entlarven und herausfinden, womit Sie Ihrem Pferd tatsächlich helfen können. Und selbstverständlich geht es bei der Handarbeit nicht nur um akribisches Analysieren und penible Fehlersuche. Ein Tänzchen zum Spaß macht müde Reiter und Pferde munter und bietet so viele Möglichkeiten, den "Stundenplan” Ihres Pferds aufzufrischen und kreativ zu gestalten. Sie möchten mit Ihrem Pferd übers Parkett schweben? Dann lesen Sie weiter!
Die Handarbeits-Positionen: Wo mag Ihr Pferd Sie am liebsten?
Bei der Handarbeit gibt es nicht die eine Position. "Suchen Sie sich die beste aus”, empfiehlt Anna Eichinger. "Die Position ergibt sich aus Ihrer persönlichen Vorliebe oder der Ihres Pferds, hängt aber auch vom Ausbildungsstand ab.” Neigt Ihr Pferd etwa dazu, über die äußere Schulter wegzulaufen, können Sie mit Ihrem Körper die rahmenden Hilfen ersetzen, indem Sie auf der äußeren Seite des Pferds bleiben. Drängt es dagegen nach innen, bleiben Sie auf der inneren Seite, um mit Ihrem Körper und der Gerte den inneren Schenkel besser simulieren zu können. Je nachdem, wo Sie sich befinden, können Sie das Pferd da unterstützen, wo und wie es Sie braucht.
Die Basis-Position: Innen seitlich neben dem Pferd. Sie führen die Zügel mit beiden Händen. Die äußere Hand halten Sie zusammen mit der Gerte über dem Widerrist. Der äußere Zügel gibt den Rahmen vor und begrenzt den Grad der Biegung, bleibt aber so locker, dass das Pferd sich herandehnen kann. Mit der inneren Hand geben Sie bei Bedarf zarte Impulse, um lösend oder stellend einzuwirken. Sie befinden sich auf Höhe der inneren Pferdeschulter oder des inneren Schenkels (um etwa die biegende Hilfe zu verstärken). Ihr Blick und Ihre Zehenspitzen zeigen nach vorne in Bewegungsrichtung. Ihre Schulterposition stimmt mit der Ihres Pferds überein. In dieser Position werden Sie praktisch zum inneren Schenkel. Sie können auch mit einem größeren Pferd gut Schritt halten. Nachteile: Fällt das Pferd stark auf die innere Schulter, drängt es gegen den Menschen. Neigt es mehr dazu, auf die äußere Schulter zu fallen, können Sie es in dieser Position nicht so gut einrahmen und das Pferd kann sich überbiegen.
Die Ausrüstung
Für die Handarbeit können Sie Kappzaum, Semikappzaum (Zaum mit Ringen am Nasenriemen), Cavesal® (Kombination Kappzaum/Bosal) oder Trense nutzen. Ein Kappzaum lässt sich auch mit Gebiss kombinieren, indem Sie Gebissriemen nutzen. Probieren Sie aus, mit welchem Equipment sich Ihr Pferd am wohlsten fühlt.

Der Kappzaum ist ideal für die Handarbeit. Für die korrekte Hilfengebung ist kein Gebiss nötig.
Anna Eichinger und Viktoria Portugal arbeiten gerne gebisslos, weil manche Pferde das bevorzugen. "Mit Gebiss lassen sich manche Ausbildungsdefizite leichter vertuschen. Auch gebisslos ist eine korrekte Ausbildung möglich, wenn wir darauf achten, dass das Pferd sich in einer gesunden Haltung bewegt”, betont Eichinger. Ihre Stute Pina verkroch sich ohne Gebiss nicht mehr hinter der Hand. Und Viktoria Portugals Stute Amira fand den Weg zum korrekten Rückenschwung leichter ohne Gebiss.
Das darf die Hand:
- Sie darf spüren und den Kontakt suchen.
- Sie darf lösend einwirken und wieder nachgeben.
- Sie darf nach Stellung fragen.
- Sie darf Paraden geben.
Das darf die Hand nicht:
- Sie darf nicht am Zügel fest werden oder ziehen.
- Sie darf nicht rückwirkend werden.
- Sie darf nicht beizäumend sein, sondern nur die Stellung unterstützen.
Weiterlesen im PDF:
Die Expertinnen
Viktoria Portugal ist lizenzierte Branderup-Trainerin und gehört zum Ausbilder-Team der Akademie "Einfach Reiten” ihrer Trainer-Kollegin Anna Eichinger. Gemeinsam bieten die Österreicherinnen Unterricht und Kurse in der klassischen Reitkunst an, darunter auch einen umfangreichen Online-Kurs zur Handarbeit. (einfach-reiten.com)