Regungslos liegt Kathi in den Sägespänen und lässt die Physiotherapie über sich ergehen. Tiermedizinstudentin Kerstin Hüning kniet neben dem hellbraunen Stutfohlen. Seit acht Uhr morgens hat sie Fohlendienst und ist in ihrer Schicht ausschließlich für Kathi da. Ihre Hände in blauen Latexhandschuhen greifen nach dem linken Vorderbein des Fohlens, beugen und strecken es, immer wieder. Kathis Mutter, eine Schwarzwälder Stute, verfolgt die Prozedur gelassen.
Seit zwei Tagen stehen die beiden auf der Fohlenintensivstation der Klinik für Pferde an der Ludwig-Maximilians-Universität München, einer der größten Pferdekliniken Deutschlands. Stutfohlen Kathi kam mit einer Fehlstellung zur Welt, ihre Beugesehnen sind verkürzt. Weil sie deshalb nicht aufstehen konnte, war das Euter ihrer Mutter unerreichbar; und mangels Milch wurde das Fohlen immer schwächer. Die Besitzer molken die Stute und gaben Kathi die Milch aus einer Flasche.
Das verschlimmerte jedoch ihren Zustand – Kathi bekam eine Lungenentzündung. "Obwohl es gut gemeint ist, sollte man einem Fohlen niemals die Flasche geben, sondern die Milch in einer Schüssel reichen", sagt Dr. Vanessa Franzen.
Die Fachtierärztin für Pferde, die auf Innere Medizin spezialisiert ist, koordiniert gemeinsam mit Prof. Dr. Anna May, Diplomate für Innere Medizin, die Arbeit auf der Station. "Beim Saugen aus einer Flasche besteht die Gefahr, dass das Fohlen die Milch einatmet", erklärt Dr. Vanessa Franzen. "Es hustet nicht, wenn es sich verschluckt. Die Milch läuft einfach in die Lunge." Das Risiko sei umso größer, wenn das Fohlen schon geschwächt ist.
Bereits zwei Stunden nach der Geburt musste das Minishetty-Fohlen in die Klinik
Mit geschwächten Pferdebabys kennen sich Franzen, May und ihre Mitarbeitenden aus. Rund 30 Fohlen päppelt das Team in jedem Frühjahr auf, aus ganz Süddeutschland und Österreich bringen Pferdebesitzer ihre Tiere. "Die Hauptprobleme sind, dass die Fohlen zu früh und dadurch unreif auf die Welt gekommen sind, oder dass sie zu wenig von der Biestmilch aufgenommen und deshalb Infektionen entwickelt haben."
Oft überweisen Haustierärzte oder umliegende Kliniken kranke Fohlen an die Uniklinik, wenn ihre Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Wenngleich die erst 2022 eröffneten Gebäude mit Hightech-Geräten ausgestattet sind, gesunden im Münchner Norden keineswegs nur teure Sportpferde: "Wir hatten dieses Jahr schon ein Kaltblutfohlen von einem Holzrückepferd und aktuell ein Minishetty", berichtet Prof. Anna May.

Diagnose "Dummy Foal": Fohlen sind schlapp und schläfrig
Das plüschige graue Bündel war erst zwei Stunden alt, als sein Besitzer es in die Klinik fuhr, um professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die schnelle Diagnose der Expertinnen: "Dummy Foal". Das stark geschwächte Minishetty hatte quasi seine eigene Geburt verschlafen. "Lange glaubte man, dass Sauerstoffmangel der Grund für die typischen Symptome sei", erklärt Fachtierärztin Anna May. "Doch heute wissen wir, dass die Fohlen von Huftieren während der Trächtigkeit durch Hormone ruhiggehalten werden, damit sie das Muttertier nicht verletzen. Passieren sie den Geburtskanal, bewirkt der Druck auf den Brustkorb normalerweise, dass der Körper die Hormone abbaut."
Immer wieder kommt es vor, dass dieser Vorgang ausbleibt und die ruhigstellenden Hormone weiter wirken. So ein Fohlen ist nach der Geburt desorientiert, schlapp und schläfrig, kann das Euter nicht finden und keine Bindung zur Mutter aufbauen. Was unbehandelt dramatisch enden kann, lässt sich leicht beheben – indem man den Geburtsvorgang noch einmal nachahmt. "Mit einer bestimmten Technik schlingen wir ein Seil um den Brustkorb des Fohlens, um den Druck während der Geburt zu simulieren", erklärt Anna May. Löst man die Fesseln nach 20 Minuten, stehen die Fohlen oft quicklebendig auf.

Manche Pferdemütter sind umgänglich – bei anderen wird’s für die Ärzte gefährlich
Auch Electra ist ein "Dummy Foal", das in München per "Foal Squeeze" in die Realität geholt wurde. Dass das Seil dem Fohlen helfen sollte, war für seine falbfarbene Mutter nur schwer zu verstehen: Aufgeregt wiehernd streckte die Stute den Kopf über die Boxenwand, hinter der Electra auf einer blauen Matte lag. In diesem Teil der Klinik ist alles auf die Kleinsten ausgerichtet: Wärmelampen schützen vor Auskühlung, neben Handtüchern liegen spezielle Lagerungspolster bereit, dazu Sonden für die künstliche Ernährung und Katheter im Mini-Format.
Wie sich die Mutterstuten verhalten, während die Tierärztinnen und Tierärzte das Leben ihres Nachwuchses retten, sei ganz unterschiedlich, sagt Anna May: "Manche sind sehr umgänglich. Sie schauen nur zu und lassen sich von jedem melken. Andere haben einen so starken Beschützerinstinkt, dass es für das Personal gefährlich wird."
Die Stute melken, das Fohlen füttern, Blut abnehmen, den Sauerstoff messen, das Herz abhören, Urin auffangen, Atemzüge zählen, Fieber messen, Infusionen starten, Medikamente geben, dann wieder die Stute melken – wer auf der Intensivstation Fohlendienst hat, ist im Dauereinsatz. Bei unserem Besuch sind sieben kleine Patienten rund um die Uhr auf Betreuung angewiesen. Während der Fohlensaison seien sie fast jede Nacht in der Klinik, berichten Vanessa Franzen und Anna May, unterstützt von drei Kollegen, Studierenden und wissenschaftlichen Hilfskräften. "Neben jedem Fohlen sitzt immer mindestens eine Person." Das hat seinen Preis: Rund 1 500 Euro kostet eine durchschnittliche erste Nacht auf der Intensivstation. Mindestens zweimal täglich erfahren die Besitzer, wie es ihren Lieblingen geht.
Viele Züchter unterschätzen das Risiko für Fohlen
Anders als bei erwachsenen Pferden kann sich der Zustand eines Fohlens rasant verschlechtern. "Viele unterschätzen das und denken, die Fahrt in die Klinik könne noch warten", sagt Prof. Anna May. "Doch die Energie eines Fohlens ist schnell verbraucht, und nicht wenige kommen zu spät." Ein schwaches Fohlen trinkt weniger – und dann beginnt ein Teufelskreis, erklärt Dr. Vanessa Franzen: "Trinkt es nicht genug, wird es noch schwächer und damit infektanfällig. Kommen die Fohlen bei uns an, haben wir es selten nur mit einem Problem zu tun."
Lennox war so ein Fall. Vor zwölf Stunden schwebte der weißbraun gescheckte Ponyhengst noch in Lebensgefahr. Drei Tage lang hatten die Tierärztinnen und Tierärzte schon um sein Leben gekämpft und ihn fast aufgeben müssen. Das 15 Kilogramm leichte Fohlen konnte das Darmpech nicht absetzen, wie der erste Kot eines neugeborenen Pferdes heißt, und startete mit einer Kolik ins Leben. Seine Besitzer versuchten mit Einläufen zu helfen, doch der kleine Hengst wurde immer schwächer – und entwickelte schließlich eine Blutvergiftung. "Er war unser Sorgenkind der vergangenen Nacht", erzählt Anna May. "Erst seit heute Morgen scheint es ihm besser zu gehen."

Nachts kämpfte das Scheck-Fohlen um sein Leben. Alle vier Stunden braucht es Infusionen
Weil er immer noch Durchfall hat, bekommt Lennox Kochsalz-Infusionen. Alle vier Stunden schließt jemand einen neuen Beutel an den Katheter an, der unter einem Verband in der Halsvene des kleinen Schecken steckt. Mehrmals am Tag kontrolliert das Klinik-Personal zudem per Ultraschall seine Darmmotorik.
Lennox heißt eigentlich gar nicht so. Als seine Besitzer ihn brachten, hatte er noch keinen Namen. Doch in der Klinik herrscht ein Aberglaube, verrät Fachtierärztin Dr. Vanessa Franzen: "Jedes Fohlen braucht einen Namen, damit es gesund werden kann. Daher geben wir allen, die noch keinen haben, einen Arbeitsnamen." Anna Mays Kinder oder die Studierenden an der Klinik wählen ihn aus, der Name der Mutterstute gibt dabei den Anfangsbuchstaben vor.
Das Minishetty-Fohlen trägt den Arbeitsnamen Lilo. Nach vier Tagen intensiver Therapie darf es heute wieder nach Hause. Ein eher kurzer Aufenthalt sei das gewesen, berichtet Professorin Anna May: "Die meisten sind fünf bis zehn Tage bei uns." Nur Kalle, das Fohlen des Holzrücke-Kaltbluts, brauchte ganze drei Wochen, um auf die Beine zu kommen. "Ihn hätten wir mehrmals fast aufgegeben", sagt Vanessa Franzen. "Aber er gab uns immer wieder ein Fünkchen Hoffnung, und nun steht er glücklich auf der Koppel." Ihre Kollegin Anna May denkt in diesem Zusammenhang an Fohlen Alfi zurück: "Der kleine Hengst war letztes Jahr monatelang hier. Kaum hatten wir ein Problem behoben, bekam er das nächste."
Lilos größtes Problem ist gerade ein surrender Rasierer an ihrem winzigen Hals, graues Fohlenfell fällt büschelweise in die Späne. Vor seiner Entlassung muss das Fohlen gechipt werden. Alkoholtupfer, ein Lokalanästhetikum, ein letzter Piks – dann ist es geschafft: Lilo darf zurück zu ihrer Mutter und anschließend in den heimischen Stall.

Bei der gefürchteten Weißmuskelkrankheit sind die Tierärzte machtlos
Nicht immer haben Geschichten kranker Fohlen so ein Happy End. Zwei von 30 Fohlen verstarben im vergangenen Jahr auf der Intensivstation. "Dieses Jahr haben wir schon drei an die Weißmuskelkrankheit verloren", berichtet Prof. Anna May. Die Erkrankung entsteht, wenn die Stute während der Trächtigkeit nicht genug Selen und Vitamin E aufgenommen hat. "Die Muskulatur des Fohlens, auch seine Herzmuskulatur, versagt dann innerhalb des ersten Tages und wir können nichts tun", erklärt die Professorin. Schon immer seien Bayerns Böden selenarm gewesen, ergänzt Vanessa Franzen, "doch in diesem Frühjahr scheint die Weißmuskelkrankheit häufiger aufzutreten".
Das Gute: In der Fohlenmedizin wird viel geforscht. "Neue Erkenntnisse diskutieren wir schon vor Beginn der Saison im Team und passen unsere Behandlung entsprechend an", erzählt Professorin Anna May. "Dieses Jahr haben wir zum Beispiel den Zeitpunkt der Antibiotika-Therapie optimiert, weil die aktuelle Literatur eine noch frühere Gabe empfiehlt."
Verlässt ein gesundes Fohlen die Klinik, ist die Freude jedes Mal riesig. "Die allermeisten bekommen wir wieder auf die Beine", sagt Anna May, "aber nur dank sehr intensiver Therapie." Kathi, Lennox und Electra, da ist sie sich sicher, werden es schaffen. Electra zeigt an diesem Nachmittag, dass es aufwärts geht: Auf allen vier Hufen steht das Fohlen neben seiner Mutter und schafft im Schritt eine ganze Runde über das Klinikgelände.
Kontakt
LMU München, Klinik für Pferde
2022 erst wurde der Neubau im bayerischen Oberschleißheim eröffnet. Mit 3 600 Quadratmetern ist sie die größte Klinik in Süddeutschland. Rund 1 200 Pferde können hier jährlich behandelt werden, davon 800 stationär. pferd.vetmed.uni-muenchen.de