




Die Experten sollten anhand von vier Aufnahmen – von links, von rechts, von vorne und von hinten – das Exterieur eines ihnen unbekannten Pferds beurteilen, seine Reiteigenschaften einschätzen, das Alter lesen und Trainingstips geben. Niemand von ihnen wußte, wer außer ihm an dem Experiment beteiligt war. Das sollte einen möglichen Kontakt und damit verfälschte Ergebnisse verhindern.
Das Pferd: Württemberger Stute, 4 Jahre alt. Vater: der Englische Vollblüter Stan the Man. Sie wird seit etwa einem Jahr geritten, bekam im März ein Fohlen und hatte eine längere Trainingspause. Seit kurzer Zeit geht sie wieder unter dem Sattel (Cavaletti, Grundausbildung, Gelände). Sie ist gelassen, unerschrocken und extrem brav, geht noch nicht konstant am Zügel und widersetzt sich, wenn ihr die Arbeit zu anstrengend wird. Haben die Fotos das verraten?
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Dr. Thomas Raue: „Sehr sympathisch“






Auf den ersten Blick ist das ein sympathisches Pferd, das auf gepflegten und korrekten Hufen steht. Auf dem Bild von vorne scheint das Lot von der Bugspitze zur Zehenmitte des helleren Vorderhufs gebrochen (Linie nicht gerade). Dies wäre ein Stellungsfehler, aber ich gehe eher davon aus, daß dieser Eindruck durch die Aufstellung des Pferds entsteht.
Von hinten erscheint mir die Bemuskelung der Hinterhand voll ausreichend. Obwohl etwas zehenweit gestellt (Fessel unterhalb des Fesselkopfs nach außen gedreht) gefällt mir auch hier die Formation der Hinterhufe. Insgesamt hat das Pferd ein trockenes und klares Fundament ohne Gallen (schwammige, mit Flüssigkeit gefüllte Stellen) im Bereich der Gelenke.
Die Seitenansicht läßt vermuten, daß es sich um eine Stute handelt, wohl ein junges, noch wenig trainiertes Pferd. Meine Aussagen über Hufe und Trockenheit des Fundaments sehe ich bestätigt. Allerdings könnten die Gelenke an Vorder- und Hinterbein stärker ausgeprägt sein. Man wünscht sich ja Gelenke, die sich in einer großen Auflagefläche bewegen. Noch wünschenswerter wäre ein deutlich aus der Schulter nach oben gewölbter Hals, gerne etwas länger, damit es keine Schwierigkeiten bei der Anlehnung gibt. Auch die Hinterhand dürfte an der Kruppe großzügiger angelegt sein. Die Kruppe ist mir ein wenig zu abgezogen (fällt steil ab). Die Oberlinie des Rückens einschließlich Sattellage entspricht den Anforderungen an ein Reitpferd.
Auch die linke Pferdeseite (Bild 1) bestätigt den bisherigen Eindruck: ein sympathisches Pferd, bei dem man sich eine etwas großzügigere Vor- und Hinterhand vorstellen könnte. Hier kommt der korrekten weiteren Ausbildung große Bedeutung zu. Das Pferd wirkt sehr vertrauenswürdig. Ich gönne ihm, daß es ohne Zeitdruck in Dehnungshaltung und in die Tiefe geritten wird. Ich bin kein Freund häufigen Longierens. Stattdessen sollte der Reiter häufig ins Gelände gehen und bergauf und bergab reiten. Das trainiert die Muskulatur der Hinterhand. Von Typ und Gebäude her – ich vermute viel Englisches Vollblut im Pedigree – gebe ich dem Pferd eine gewisse sportliche Perspektive im Vielseitigkeitssport.
Ich schätze das Pferd auf etwa vier bis fünf Jahre.
Michael Putz: „Etwas hochbeinig“






Diese Stute steht im Typ eines relativ leichten Warmbluts, wahrscheinlich mit entsprechendem Vollblutanteil. Sie wirkt harmonisch. Auf den ersten Blick fällt nichts besonders Negatives ins Auge. Das Pferd wirkt sehr gelassen. Für eine Präsentation wäre etwas mehr Aufmerksamkeit von Vorteil, weil dann zum Beispiel die Oberlinie des Halses etwas deutlicher gewölbt wäre. Das Pferd hat kleine Ohren (erwünscht).
Der Hals ist etwas tief angesetzt. Man wünscht ihn sich als Balancierstange insgesamt länger. Sein Ansatz korrespondiert mit der etwas steilen Schulter, wodurch die Bewegungsfreiheit (Schulterfreiheit) der Vorhand sicherlich begrenzt ist.
Das Pferd hat relativ kleine Nüstern und eine kurze Maulspalte. Diese muß bei der Gebißwahl berücksichtigt werden; besonders bei Zäumung auf Kandare kann es problematisch werden, weil nur knapp Platz für beide Gebisse (Kandare und Unterlegtrense) ist.
Der Widerrist scheint genügend ausgeprägt und reicht weit genug in den Rücken hinein, so daß ein Sattel gut plaziert werden kann.
Am Dreieck zwischen Schulter, Halswirbelsäule und Mähnenkamm sieht man, daß das Pferd nicht optimal trainiert ist. Bei entsprechender Ausbildung mit genügend Arbeit in Dehnungshaltung wird die Muskulatur hier kräftiger. Die jetzt sichtbare Mulde am Hals-Schulter-Übergang wird dann ausgefüllt. Die Stellung der Vorderbeine ist etwas stramm und erscheint fast schon etwas rückbiegig. Das heißt, die Beinlinie scheint leicht nach hinten gewölbt. Eine solche stramme Stellung führt zu erhöhter Verschleißanfälligkeit der Vorderbeine – verglichen mit einer eher losen Stellung, bei der das Karpalgelenk sich etwas vor der geraden Linie befindet.
Obwohl das Pferd eine etwas lange Mittelpartie hat, zeigt es insgesamt ein nahezu quadratisches Format. Dies ergibt sich aus einer leichten Hochbeinigkeit, aber auch aus Vor- und Hinterhand, die wegen der steilen Schulter/Kruppe eher etwas kurz sind. Beim Warmblut strebt man ein leichtes Rechteckformat an, das sich aus drei gleichgroßen Teilen (Vor-, Mittel- und Hinterhand) zusammensetzt. Ein rechteckiges Pferd läßt sich leichter biegen, sein Rücken schwingt leichter, sein Schwerpunkt ist tief. Die Verbindung zur Hinterhand wirkt im Nierenbereich etwas fein, nicht sehr kräftig. Die Form der Kruppe (bestimmt durch die Lage des Beckens) ist etwas steil.
Die Hufe passen von ihrer Größe zum Pferd. Es hat aber derzeit relativ lange Zehen und wenig Trachten.
Insgesamt erscheint das Pferd ziemlich hochbeinig, vor allem am Hinterbein mit langen Röhrbeinen. Das Fundament wirkt relativ fein, das heißt, die Gelenke sind nicht so stark ausgeprägt. Ob es sich korrekt bewegt, kann nur in der Bewegung beurteilt werden. Von vorn scheint das linke Vorderbein etwas seitlich herausgestellt, die Hinterbeine stehen etwas zehenweit.
In der Dressur kann dieses Pferd vermutlich nicht mit spektakulären Gängen aufwarten. Nur wenn durch entsprechendes Training in Dehnungshaltung seine Oberhals- und Rückenmuskulatur gekräftigt wird, kann es besseren Sitzkomfort bieten, sich also auch im Trab besser aussitzen lassen. Für eine Ausbildung im Springen muß die etwas steilere Kruppe kein Nachteil sein.
Bei entsprechend korrekter und sorgfältiger Ausbildung kann so ein Pferd sicher bis zur Klasse L gefördert werden. In höheren Klassen wird es dagegen mit der vermehrt geforderten Versammlung und der daraus resultierenden Aufrichtung schwierig werden.
Ich schätze das Pferd auf fünf bis sechs Jahre.
Johannes Beck-Broichsitter: „Gerades Hinterbein“






Muß ich ein Pferd in natura bewerten, achte ich auf das Gesamtbild, die Proportionen, das Auge und die Winkelung der Beine. Im Normalfall reite ich es dann und sehe mir weitere Exterieur-Details erst genauer an, wenn ich beim Reiten merke, daß etwas nicht stimmt.
Das Pferd hat ein sehr schönes und waches Auge. Leider ist auf den Fotos nicht eindeutig zu sehen, ob das Tier überbaut ist, also die Kruppe höher liegt als der Widerrist. Auf dem Foto Nummer 1 wirkt es so. Das kann aber an der Stellung liegen.
Die Ganaschen und das Genick des Pferds wirken frei. Bei korrektem Reiten dürfte es also nicht schwer sein, das Pferd zu biegen. Der Hals könnte höher angesetzt sein. In der Mitte des Mähnenkamms ist eine kleine Kerbung zu sehen. Grund für die Delle (die durch Training behoben werden kann) könnte eine Muskelschwäche sein.
Die Schulter ist gut gewinkelt, also schön schräg und nicht zu steil – wichtig für guten Raumgriff. Die Fesselung ist in Ordnung, das Fesselbein steht gut, das Vorderbein ist schön gerade. Das Vorderfußwurzelgelenk könnte jedoch deutlicher ausgeprägt sein.
Der Widerrist schiebt sich etwas zu weit in den Rücken. Dadurch kann der Sattel leicht nach hinten rutschen. Die Kruppe ist leicht abgeschlagen, das heißt, sie neigt sich sehr abrupt vom höchsten Punkt bis zum Schweifansatz.
Die Hinterbeine sind mir zu gerade. Deshalb wird das Pferd Schwierigkeiten haben, sich zu versammeln, also die Hinterbeine zu beugen und damit mehr Last zu tragen. Die Muskeln („Hosen“) an der Hinterhand könnten stärker ausgeprägt sein.
Insgesamt ist es ein sehr ansprechendes Pferd. Es macht einen gelassenen, ehrlichen, ruhigen Eindruck (Ohrenspiel und Augen). Wahrscheinlich bringt diese Stute nichts so schnell aus der Ruhe. Auf Schrecksituationen wird sie wohl nur reagieren, indem sie den Kopf hochnimmt, aber nicht davonstürmt.
Vom Exterieur ist das Pferd durchaus für die Dressur bis Klasse L/ M und für Springen (bis Klasse L/M) geeignet. Höhere Dressurlektionen werden jedoch wegen der Winkelung der Hinterhand schwierig und reiterlich aufwendig sein.
Der Reiter sollte die Stute zunächst viel vorwärts-abwärts reiten und ins Gelände gehen. Nur so lernt sie, sich auch mit einem längeren Hals auszubalancieren. Später sollten dann die Hinterbeine mehr Last aufnehmen und die Oberhalslinie gekräftigt werden.
Ich schätze das Pferd auf etwa zehn Jahre.
Ralph Müller: „Ruhiger Gebrauchstyp“





Als erstes schaue ich den Kopf an. Er muß auf mich sympathisch wirken. Dann betrachte ich den Hals, den Rücken, das Maul, die Beine – also Dinge, die für mich als Reiter wichtig sind.
Beim Bild von vorne fällt der wache, aber gelassene Gesichtsausdruck auf. Allerdings steht das Pferd ein wenig bodenweit (Hufe voneinander entfernt und nach außen gedreht). Beim Foto von hinten fällt auf, daß der Schweif nach links hängt. Das kann auf eine Schiefe deuten. Möglicherweise hat das Pferd aber gerade nach einer Fliege geschlagen. Das Fundament ist trocken und hat keine Gallen.
Die Seitenansichten bestätigen den Eindruck eines ausgeglichenen, ruhigen Pferds. Die Stute hat eine lange Maulspalte, das ist positiv. Allerdings trägt sie auf dem Foto ein Nathe-Olivenkopfgebiß.
Wäre es ein Verkaufsfoto, würde ich das bemängeln: Ein solches Gebiß läßt vermuten, daß das Pferd besonders empfindlich im Maul ist und deshalb ein besonders weiches Gebiß braucht. Pferde, die lange mit einem solchen Gebiß geritten werden, stumpfen später leicht ab.
Die Backenknochen sind groß, die Ganaschenfreiheit ist ausreichend. Der Hals ist genügend lang, der Widerrist geht harmonisch in den Rücken über. Probleme mit dem Sattel dürfte es also nicht geben.
Nierenpartie und Flanken sollten stärker bemuskelt sein. Die Kruppe fällt steil genug ab. Allerdings sind die Sprunggelenke weit vom Boden entfernt. Die bemuskelten Teile, Hosen genannt, sollten länger sein. Nur dann kann durch die Hebelwirkung die Hinterhand viel Last aufnehmen. Allerdings kenne ich auch Pferde, die mit solchen Beinen piaffieren. Sie setzen sich sozusagen über ihr Exterieur hinweg.
Weil die Hinterhand vermutlich nicht sehr leicht Last aufnimmt und der Hals sehr tief angesetzt ist (schlecht für die Versammlung), ist das Pferd ein ruhiges Gebrauchspferd für Dressur und Springen bis A/L, vielleicht auch M.
Die Stute ist in einem befriedigenden Trainingszustand. Man sieht, daß sie geritten wird. Allerdings hat der Hals einen leicht falschen Knick. Die fehlenden Muskeln in der Nierenpartie deuten darauf hin, daß die Stute kürzlich ein Fohlen hatte.
Ich schätze das Pferd auf fünf oder sechs Jahre.