Was moderne Technik jetzt kann, können Pferde schon lange! Sprachassistenten wie Alexa, Siri und Co. erkennen, ob der Mensch vorm Smartphone müde, ärgerlich oder freudig ist – eine sensationelle Entwicklung. Doch das, woran Programmierer bei Maschinen jahrelang tüftelte, haben Pferde ganz natürlich drauf: Die Tiere lesen unsere Stimmung im Gesicht ab.
"Was ein drohender oder entspannter Blick bedeutet, verstehen sie meistens intuitiv. Wir müssen ihnen das nicht beibringen, sondern können direkt damit kommunizieren", erklärt Verhaltensforscherin Dr. Vivian Gabor. Die Fähigkeit Mimik zu deuten, haben Pferde über 25 Millionen Jahre im Herdenleben verfeinert. Ein Leittier etwa tritt nicht sofort, wenn es andere von einem Futterplatz verscheuchen will. Zuerst blickt der Boss den Kollegen an und macht dadurch seinen Platzanspruch deutlich. Reagiert der Herdenkollege nicht, kommen Drohsignale wie Ohrenanlegen hinzu. "Tritte sind die letzte Wahl", erklärt Dr. Vivian Gabor. Daraus folgt: Erfasst ein Pferd Blickrichtung und Mimik des Chefs, erspart es sich möglicherweise Verletzungen. Gesichter lesen, bringt Pferden also Vorteile.
Faszinierend: Diese Softskills aus der Herde wenden Pferde auch an, um uns Menschen besser zu verstehen. Studien belegen, dass sie unsere Mimik deuten. Forscher aus England zeigten 28 Pferden Fotos von Männern, die lächelten oder wütend schauten.
Was passierte? Die Pferde reagierten stärker auf wütende Gesichter. Ihre Herzfrequenz stieg und sie sahen das Bild mit dem linken Auge an – ein Zeichen dafür, dass es bei ihnen negative Emotionen auslöste. Die Pferde deuteten scheinbar, dass der Mensch auf dem Foto nicht gut drauf ist. Was können Reiter aus dieser Studie für die Praxis mitnehmen? Die natürliche Hilfe für die Kommunikation mit dem Pferd haben wir immer dabei: unser Gesicht. Über unseren Ausdruck wirken wir ständig, ob wir wollen oder nicht. Zeit also, die Mimik gezielt einzusetzen. "Wir legen damit bereits bei der Begrüßung den Grundstein für eine positive Stimmung", sagt Dr. Vivian Gabor. Lust bekommen, die Wirkung Ihrer eigenen Mimik zu testen? Die Ausbilderin zeigt Übungen, die Sie einfach und effektiv im Alltag mit Ihrem Pferd trainieren können.
Testen & Trainieren: Wie die Mimik das Verhalten beeinflusst
Begrüßungs-Test
Pferde begrüßen sich gerne sinnlich mit einem Nasenkuss. Manche Tiere nehmen sich 15 Minuten Zeit, um allen Pferden in der Herde "Hallo" zu sagen. Das belegen Beobachtungen der Pferdewissenschaftlerin Isabell Marr aus Nürtingen. Für Pferde ist eine freundliche Begrüßung wichtig. "Sind wir Menschen vom ersten Moment an freundlich zum Pferd, schwingt das die gesamte Trainingszeit mit", sagt Vivian Gabor. Probieren Sie aus, welche Rolle dabei Ihr Gesichtsausdruck spielt und wie Ihr Pferd diesen spiegelt.
Vor dem Spiegel üben
Bitte recht freundlich! Das eigene Gesicht zu kontrollieren ist gar nicht einfach. "Checken Sie vorm Spiegel, wie Ihr Gesichtsausdruck wirkt. Erst dann arbeiten Sie über die Mimik mit dem Pferd", rät Gabor. Starten Sie mit einem bösen Gesicht. Ziehen Sie die Augenbrauen zusammen, fokussieren Sie den Blick und pressen Sie die Lippen zusammen. Merken Sie, wie sich Ihre Körperspannung ändert? Nun lächeln Sie. Die Muskeln im Gesicht sind entspannt, die Mundwinkel nach oben gezogen, der Augenausdruck ist weich.
Tipp: Denken Sie an etwas Schönes, wie den ersten Ausritt im Frühling. Atmen Sie tief durch. Netter Nebeneffekt: Wenn Sie 60 Sekunden durchhalten, schüttet das Gehirn Glückshormone aus.
Test 1: Begrüßung mit bösem Blick
Gehen Sie auf Ihr Pferd zu und schauen böse. Das ist doch eine unrealistische Situation? Von wegen. Oft tüddeln wir am Pferd rum, sind gedanklich aber noch bei der Arbeit. Wir nehmen Druck und Ärger mit, schauen ange- strengt – und merken es gar nicht. Finden Sie nun heraus, wie das Pferd auf Ihr angespanntes Gesicht reagiert. Im CAVALLO-Test auf der Weide mit Dr. Vivian Gabor weicht Ponywallach Tabby aus. Er dreht zunächst den Kopf von der Trainerin weg, wendet sich dann ganz ab und marschiert schließlich in die entgegengesetzte Richtung. "Er macht Platz, um einen möglichen Angriff zu verhindern", erklärt die Trainerin.

Test 2: Begrüßung mit einem Lächeln
Für den realistischen Vergleich lassen Sie einen Tag vergehen und sagen dann Ihrem Pferd mit einem entspannten Lächeln im Gesicht "Hallo". Wie reagiert es darauf? Wallach Tabby zeigt sich deutlich entspannter. Er wendet sich Dr. Vivian Gabor zu. Die Trainerin hält ihm den Handrücken zum Schnuppern hin. Tabby nimmt Kontakt auf und zeigt damit, dass er den Menschen akzeptiert. "Das ist wie bei uns der Handschlag."

Der Blickfokus bewegt das Pferd
Pferde kommunizieren in der Herde stufenweise. Will ein Herdenchef sich Platz verschaffen, macht er das zunächst über Blicke deutlich, dann nimmt er Körperspannung dazu. Dr. Vivian Gabor zeigt, wie Reiter ihre Pferde mit Blicken bewegen können. Als Ausrüstung brauchen Sie Halfter, Führstrick und eine Gerte.
Schneller vorwärts im Schritt
Bummelt Ihr Pferd beim Führen? Vielleicht haben Sie auf den Boden geschaut. In dem Fall senken Sie automatisch Ihren Kopf und die Schultern und die Körperspannung lässt nach. "Für das Pferd ist das ein Zeichen von Entspannung und es wird langsam", erklärt Dr. Vivian Gabor. Um das Pferd wieder aufzuwecken, heben Sie den Kopf und suchen sich ein Ziel circa 50 Meter vor Ihnen. Darauf richten Sie Ihren Blick. Gehen Sie nun auf das Ziel zu. "Ein Ziel vor Augen hilft, Dynamik in den Körper zu bringen. Die Energie überträgt sich auf das Pferd. Es wird flotter", erklärt die Forscherin.

Seitliches Weichen
Dr. Vivian Gabor gibt Kurse in Bodenarbeit und arbeitet viel mit fremden Pferden. "Selbst ohne vorheriges Training verstehen die Tiere schnell, dass der Körperteil weichen soll, auf den ich schaue", erzählt sie. Damit das Pferd seitlich weicht und die Hinterbeine kreuzt, schauen Sie mit klarem Fokus auf die Flanke. Reagiert das Pferd nicht, steigern Sie die Hilfe stufenweise. Zunächst intensivieren Sie den Blick indem Sie etwa die Augen kurz etwas mehr öffnen. Dann erhöhen Sie die Körperspannung und machen einen Schritt Richtung Flanke. Erst als letztes Mittel touchieren Sie die Flanke des Pferds mit der Gerte. Reagiert das Pferd auch nur ansatzweise, Druck sofort nachlassen und dem Pferd eine Pause gönnen. "Wenn Sie mit dieser stufenweisen Steigerung konsequent üben, wird das Pferd schon bald auf den ersten Blick reagieren – dies ist die angenehmste Option", weiß die Pferdeforscherin.

Rückwärts richten
Stellen Sie sich vor das Pferd. Die Position ist leicht seitlich versetzt, damit das Pferd Sie nicht umrennt, falls es sich erschreckt. Fokussieren Sie nun die Brust des Pferds mit Ihren Augen. Das erkennt das Pferd als Signal zum Rückwärtstreten. Reagiert es nicht, steigern Sie die Hilfen stufenweise wie zuvor beschrieben. Tippen Sie zum Touchieren leicht vorne auf die Brust; achten Sie darauf, nicht mit der Gerte vor dem Gesicht des Tiers zu wedeln.

Spiel: Spannungsübertragung fühlen
Damit Sie selbst fühlen, was beim Pferd von Ihnen ankommt, machen Sie mit Stallkollegen oder Freunden die folgende Übung. Das Ziel: Einer bewegt den Anderen mit den gleichen Hilfen wie beim Pferd zum Rückwärtsrichten – und zwar allein über Körperspannung und Blicke. Dabei gibt es einen besonderen Clou: Die Person, die sich bewegen lässt, schließt die Augen! Der Andere muss es schaffen, dass die Person Signale wie Blickfokus, erhöhte Körperspannung, (möglichst lautloser) Schritt nach vorne blind empfängt. Funktioniert das? Wenn ja, wann ist das Signal durchgedrungen? Wie stark hat die Person es empfunden? Probieren Sie es aus und wechseln danach die Rollen. Dr. Vivian Gabor entwickelte die Übung für die angehenden Pferdeverhaltenstrainer, die sie an ihrem Institut für Vehalten und Kommunikation in Greene/ Niedersachsen ausbildet. "Es ist immer wieder schön, die WowEffekte in den Gesichtern der Leute zu sehen", erzählt die Trainerin.
Einer relaxt, alle relaxt
In der Herde ist es ganz normal, dass Pferde ihr Verhalten synchronisieren. "Spannungs- und Entspannungszustände übertragen sich wie eine Welle", erklärt Verhaltensforscherin Dr. Vivian Gabor. Das zeigt sich nach dem Fototermin mit CAVALLO im Aktivstall bei der Ausbilderin. Wallach Tabby döst nach dem Shooting mit seinen Freunden.
Alle Pferde haben den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen oder halb geschlossen. Sie sind entspannt und fühlen sich sicher in der Gruppe. Im umgekehrten Fall gilt: Spannt sich ein Pferd an und flieht, laufen die Anderen meist mit. In der Natur hat der die besten Überlebenschancen, der schnell auf Spannungsänderungen reagiert. "Deshalb nehmen Pferde feinste Signale wahr, was wir Reiter nutzen können", so die Trainerin. Pferde spüren es, wenn wir den Blick fokussieren. Selbst, wenn sie den Blick nicht sehen, nehmen sie die dadurch veränderte Körperspannung wahr.
Die sozialen Tiere sind äußerst anpassungsfähig
Beobachtungen zeigen, dass sich synchrones Verhalten sogar positiv auf Bindungen auswirkt. Grasen, dösen, spielen und toben Pferde gemeinsam, stärkt das den Zusammenhalt einer Gruppe. Verhalten sich Pferde ähnlich und suchen Nähe, steht das für ein harmonisches Verhältnis und Freundschaft. Das fand Dr. Verena Hauschildt bei Beobachtungen für Ihre Dissertation (2015) an der Uni Göttingen heraus.