Ein tiefer Blick in den Ausschnitt, die Hand auf dem Knie, eine anzügliche Bemerkung – fast alle Mädchen und Frauen kennen solche Vorkommnisse aus eigener Erfahrung. Manche sind sogar bereits Opfer sexualisierter Gewalt geworden – also von Übergriffen, in denen ein Mann konkret seine Machtposition ausnutzt, um sexuelle Handlungen zu erzwingen.
Das macht vor Stalltüren nicht Halt: Sexualisierte Gewalt ist im mädchendominierten Reitsport häufiger der Fall, als man denkt; den Schluss lassen Studien zu. Warum ist das so? Was kann man vorbeugend und im konkreten Verdachtsfall tun? Und wo fängt sexualisierte Gewalt an?
Vertrautes Umfeld wird ausgenutzt
Um Letzteres zu beantworten: meist im vertrauten Umfeld. Bei jungen Sportlern greifen generell bestimmte Phänomene wie Vertrauen zum Trainer, die viele Zeit, die man zusammen verbringt, und die körperliche Nähe. Im Pferdesport kommt ein weiterer entscheidender Faktor dazu: „Pferde haben eine ungeheure Anziehungskraft, der Umgang mit dem Pferd ist hochemotional“, erklärt Maria Schierhölter-Otte, Leiterin der Abteilung Jugend der FN, die sich seit sieben Jahren für Prävention und richtigen Umgang mit sexualisierter Gewalt im Pferdesport einsetzt. „Das macht Kinder und Jugendliche zu leichten Opfern.“
Täter locken mit vermeintlichen Privilegien
Das Muster ist weitgehend gleich: „Die Täter bauen über lange Zeit ein Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis auf, versprechen das Reiten bestimmter Pferde, Turnierteilnahme oder andere vermeintliche Privilegien.“ Dagmar von Stralendorff-Grüttemeier, Rechtsanwältin aus Berlin und Sachverständige für Haltung, Zucht und Bewertung von Pferden, nennt eine weitere Ursache: „Reiten ist ein teurer Sport. Talentierte Mädchen sind auf gute Pferde angewiesen, wenn sie sportlich weiterkommen wollen und das Elternhaus ihnen dies nicht finanzieren kann.“ Auch die Einstellung der Männer sieht sie als Problem: „Manche Männer aus der Pferdeszene denken, es stehe ihnen quasi nach ‚Gutsherrenart‘ zu, sich so zu verhalten.“
Zudem ist für Minderjährige oft schwierig einzuschätzen, wo Grenzverletzungen beginnen. „Die Mädchen meinen, die Vorgänge im Griff zu haben, aber das haben sie nicht“, so die Anwältin. „Die Erkenntnis kommt oft erst, wenn es zu spät ist.“
Wo beginnen die Grenzverletzungen?
Was genau ist sexualisierte Gewalt? Darunter versteht man allgemein verschiedene Formen der Machtausübung mittels Sexualität. Das umfasst im weitesten Sinne
- Handlungen mit Körperkontakt wie Berührungen oder
- die versuchte oder erfolgte Penetration,
- aber auch Handlungen ohne Körperkontakt – etwa anzügliche Witze, Blicke, Gesten oder Exhibitionismus.
Im Strafgesetzbuch gibt es den Begriff „sexualisierte Gewalt“ jedoch nicht: „Dort heißt es sexueller Missbrauch bzw. sexuelle Nötigung“, sagt Rechtsanwältin Alexandra Braun, die sich unter anderem auf Missbrauchsfälle spezialisiert hat. „Was diese sexuelle Nötigung genau ist, ist im Gesetz jedoch nicht definiert. Es muss sich jedoch um eine Handlung von ‚einiger Erheblichkeit‘ handeln.“ Diese „Erheblichkeitsschwelle“ werde bei Kindern in der Regel niedriger angesetzt als bei erwachsenen Frauen und könne immer nur im Einzelfall be- bzw. verurteilt werden, erklärt die Anwältin. „Griffe unter der Kleidung an die Brust oder gar an die Scheide fallen durchaus unter den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Dabei ist es nicht erforderlich, dass das Kind die sexuelle Bedeutung eines Vorgangs erkennt, es muss ihn nicht einmal wahrnehmen.“
Hohe Dunkelziffer
Jährlich gibt es in Deutschland knapp 12.000 Ermittlungs- und Strafverfahren wegen sexuellen Kindesmissbrauchs. Das ist die offizielle Zahl. Konkrete Zahlen für den Reitsport fehlen; zudem ist die Dunkelziffer sehr hoch, da viele Fälle nicht angezeigt werden. Im November 2016 gab die Studie „Safe Sport“ der Universitätsklinik Ulm, der Sporthochschule Köln und der Deutschen Sportjugend im DOSB erstmals einen Einblick in das Ausmaß sexualisierter Gewalt im Sport – und erlaubt Rückschlüsse für den Reitsport.
Befragt wurden 1.799 Kaderathleten und -athletinnen zu ihren Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt im Sport-Umfeld. Mit erschreckenden Ergebnissen: Fast die Hälfte der weiblichen Befragten (48%) gab an, Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht zu haben – von Anzüglichkeiten über unangemessene Berührungen bis zu sexualisierter Gewalt mit Körperkontakt. Von Letzterem waren 5% der befragten Frauen betroffen. Von diesen Betroffenen waren wiederum 65% beim ersten Vorfall unter 18 Jahre alt. Und 35% der Betroffenen haben mit niemandem über ihre Erfahrung gesprochen.
Sexualisierte Gewalt im Sport tritt also überwiegend erstmals im Kindes- und Jugendalter auf. Übertragen auf den Reitsport würde das heißen: Von den derzeit etwa 208.000 Mädchen unter 18 Jahren, die in deutschen Reitvereinen organisiert sind, könnten knapp 100.000 im weitesten Sinne Opfer sexualisierter Gewalt geworden sein.
Für Betroffene gibt es eine Beratungs-Hotline
Wie geht der Dachverband der Reitvereine, die FN, damit um? Seit 2010 ist der Verband bemüht, Missbrauch vorzubeugen und Betroffenen zu helfen. „Für alle FN-Trainerausbildungen ist die Vorlage eines erweiterten polizeilichen Führungszeugnisses Pflicht“, erklärt Maria Schierhölter-Otte. Seit 2013 kooperiert die FN zudem mit der Missbrauch-Beratungsstelle Zartbitter e.V. in Köln. Für Betroffene aus dem Reitsport und die, die einen Verdacht hegen, wurde eine eigene Hotline eingerichtet, die professionelle psychologische Beratung und Betreuung leistet. Diese Anlaufstelle soll ermutigen, sich – auch anonym – mitzuteilen und Hilfe zu holen.
Wichtiger Baustein der Präventionsarbeit ist es, die Vereine für dieses wichtige Thema zu sensibilisieren. „Hier treten wir als Dachverband an die uns angeschlossenen Pferdesportverbände auf Landesebene heran. Wir haben einen Handlungsleitfaden entwickelt und halten die Landesverbände immer wieder an, sich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen und es in ihren Mitgliedsvereinen zu implementieren“, sagt Maria Schierhölter-Otte.
Hälfte der Vereine haben Prävention nicht auf der Agenda
Hier muss allerdings noch einiges passieren: Die Studie „Safe Sport“ ergab, dass 49% der befragten Vereine die Prävention sexualisierter Gewalt als ein relevantes Thema für Sportvereine sehen. Umgekehrt bedeutet das jedoch, dass gut die Hälfte der Vereine das Thema noch nicht auf der Tagesordnung hat. Für Maria Schierhölter-Otte hängt dies auch mit der Struktur der Vereine zusammen: „Große Vereine sind für das Thema erfahrungsgemäß sensibler und offener als kleine. Und: Es macht einen großen Unterschied, ob der Vorstand überwiegend weiblich oder männlich ist.“
Erzwingen kann die FN bei den Vereinen nichts, nur Ratschläge geben – wie etwa, sich von Ausbildern ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis und Referenzen vorlegen zu lassen. Vereine, private Anlagen oder selbsternannte „Ausbilder“, die nicht der FN angeschlossen sind, sind darüber jedoch nicht zu erreichen.
Erwachsene sollten Augen und Ohren offen halten
Vor dem Hintergrund ist es wichtig, dass Pferdebesitzer, erwachsene Reiter und vor allem Eltern von pferdebegeisterten Kindern und Jugendlichen Augen und Ohren offen halten – ohne alle unter Generalverdacht zu stellen. „Eltern sollten sich genau anschauen, wo und mit wem die Kinder einen großen Teil ihrer Zeit verbringen. Viele Trainerwechsel etwa im Verein sind zu hinterfragen“, rät Schierhölter-Otte.
Dazu kommt: Hat jemand seine Strafe verbüßt, kann er sich als Trainer oder Stallbetreiber an einem Ort niederlassen, wo er nicht bekannt ist – auch das ein Grund, warum man im Verdachtsfall nach einem erweiterten polizeilichen Führungszeugnis fragen könnte. Allerdings haben Ersttäter oder solche, die bisher nicht aktenkundig geworden sind, hier keine Einträge.
Anzeigen bringen oft nicht den gewünschten Erfolg
Besteht ein begründeter Verdacht, sollte man auf keinen Fall im Alleingang agieren, sondern sich an die Beratungsstelle Zartbitter e.V. wenden. Hier erhält man konkrete Hilfestellung. Denn ganz so einfach ist es oft nicht, gegen Täter vorzugehen: „Kommt ein Fall von sexualisierter Gewalt ans Licht, werden die Opfer von der Stallgemeinschaft nicht selten regelrecht sozial geächtet, vor allem, wenn es sich bei den Tätern um beliebte Ausbilder handelt“, erklärt Dagmar von Stralendorff-Grüttemeier.
Dazu kommt: Wie bei vielen Vergewaltigungen, zumal, wenn Aussage gegen Aussage steht, wird den Opfern von der Öffentlichkeit schnell eine gewisse „Teilschuld“ zugeschoben. Das Mädchen habe provoziert, sei einverstanden gewesen, habe es doch auch gewollt. Kein Wunder, dass viele Betroffene Vorfälle verharmlosen oder verschweigen.
Selbst wenn sie sich jemandem anvertrauen, ist es ein weiter Weg zur Anzeige. „Das Gebiet des Sexualstrafrechts ist sehr kompliziert. Häufig gibt es Beweisprobleme, es steht Aussage gegen Aussage“, erklärt Alexandra Braun. „Deshalb ist es wichtig, sich vor der Anzeige anwaltlich beraten zu lassen. Ich hatte schon häufig Fälle, in denen es zu keiner Anklage kam, weil ein Verhalten zwar unethisch und unmoralisch, aber nicht strafbar war. In anderen Fällen war die Beweislage zu schlecht. Manchmal entscheiden sich die Betroffenen bewusst gegen eine Anzeige, weil es sehr belastend ist, einen monate- oder gar jahrelangen Prozess durchzustehen.“
So steinig dieser Weg erscheint: Betroffene und Beobachter sollten Vorfälle mit psychologischer und anwaltlicher Betreuung öffentlich machen – denn Wegsehen und Verharmlosen hilft nur den Tätern.
Hier finden Sie Hilfe!
Zusammen mit der Missbrauch-Beratungsstelle Zartbitter e.V. in Köln hat die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) eine spezielle Hotline für Betroffene und Personen eingerichtet, die eine sexuelle Grenzverletzung im Reitsport vermuten.
Unter der Nummer 0171 / 2 13 86 31 steht donnerstags (17 bis 18 Uhr) eine Fachkraft von Zartbitter e.V. zur kostenlosen Beratung zur Verfügung (auch anonyme Anrufe möglich). Per E-Mail ist die Beratung über pferdesport@zartbitter.de zu erreichen.
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