Ein pinker Plastik-Flamingo sitzt auf der Reithallenbande. Wallach Tabby entdeckt ihn und stoppt schnorchelnd vor dem Wasserspielzeug. Das vierjährige Pony prustet Luft aus den Nüstern, macht einen Kragen und starrt den Vogel an.
Schreckhaft in der Entspannung
Kurz zuvor hatte der Wallach keine Notiz von dem ungewöhnlichen Zaungast genommen, sondern war konzentriert seitwärts gelaufen – so wie es Pferdetrainerin Dr. Vivian Gabor von ihm bei der Bodenarbeit gefordert hatte. Erst jetzt, wo er am langen Strick durch die Halle schlendert, nimmt Tabby den Flamingo wahr. Warum erst jetzt?
Psychologen nennen dieses Phänomen „Unaufmerksamkeitsblindheit“: Eigentlich gut sichtbare Dinge/Menschen werden nicht wahrgenommen, wenn die Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet ist.
Vielleicht haben Sie schon ähnliches wie Pony Tabby erlebt? Sie suchen etwa in einer Straße nach einer Hausnummer – und bemerken nicht, dass Ihnen ein guter Freund entgegenkommt. Oder Sie quatschen beim Autofahren mit dem Partner – und rauschen direkt am Supermarkt vorbei, obwohl Sie dort einkaufen wollten.

Der unsichtbare Gorilla: Wir sehen, ohne zu sehen
So blind kann man doch gar nicht sein, oder? Kann man doch. Das ist sogar ganz normal und hat nichts mit geistiger Unfähigkeit zu tun.
Das Gorilla-Experiment von 2011 ist ein berühmtes Beispiel aus der Forschung: Die US-Psychologen Christopher Chabris und Daniel Simons stellten Basketball-Zuschauern eine Aufgabe: Sie sollten die Pässe zählen, die sich die Spieler zuwarfen. Nach ein paar Minuten latschte ein Gorilla zwischen den Spielern hin und her. Natürlich kein echter, sondern ein verkleideter Schauspieler.
Das Verblüffende: Die meisten Probanden bemerkten den Affen überhaupt nicht. Die Konzentration auf die Zähl-Aufgabe machte den Gorilla für sie unsichtbar. Beim Menschen gilt Unaufmerksamkeitsblindheit also als belegt. Und wie ist es bei Pferden? „Bisher war das unerforscht. Wir veröffentlichen gerade die erste Untersuchung dazu“, erzählt Dr. Vivian Gabor von der Uni Göttingen.
Die Forscher bauten eine Geisterbahn für Pferde
Die Verhaltensforscherin und ihr Team schickten 24 Pferde in eine Art Geisterbahn: einen abgesteckten Gang, in dem unerwartet ein Monster auftaucht. Lassen sich Pferde mit Futter von dem Schreckgespenst ablenken?
Das Ergebnis: Wenn Pferden Futter am Ende des Ganges winkte, reagierten sie weniger schreckhaft. Im Unterschied zu den Teilnehmern der Gorilla-Studie bemerkten sie das Schreckgespenst aber durchaus: „Für das Fluchttier könnte es tödlich sein, wenn es aus Konzentration alle Außenreize abschaltet“, so Gabor.
Test: „Wie schreckhaft ist mein Pferd?“
Schicken Sie Ihr Pferd in die Geisterbahn! So testen Sie mit Methoden aus der Forschung seine Nervenstärke und gewinnen Wissen fürs Training.
1. Aufbau der Schreckgasse

Material: 8 Pylonen, 8 Weidestecken, Absperrband, 2 Sattelböcke/Stühle, 2 Decken/Planen, ein Schreckmonster (ca. 50 – 100 cm groß, hier aufblasbarer Flamingo). Sie können den Gang auch mit Stangen und Sprungständern bauen, falls vorhanden.
Bauen Sie einen 15 m langen und 3 m breiten Gang in der Mitte der Reitbahn. Die mit Decken abgedeckten Sattelböcke/Stühle stehen etwa bei 8 m quer zur Gasse auf gleicher Höhe. Sie dienen als Wand, hinter der Sie später den Flamingo verstecken.
2. Gewöhnung an die Gasse

A. Führen Sie Ihr Pferd durch den Gang Richtung Hallenausgang (in diese Richtung laufen Pferde meist lieber), bis es ruhig und entspannt hindurch geht. „Bleiben Sie neben der Pferdeschulter, damit das Pferd Sie nicht umrennt, falls es erschrickt und vorstürmt“, rät Dr. Vivian Gabor. Wenn das Pferd gar nicht durch den Gang gehen will, bauen Sie ihn breiter auf.
B. Das Pferd lernt nun, allein durch die Gasse zu laufen. Ein Helfer führt es in den Gang und löst den Strick. Sie nehmen das Tier am Ende in Empfang. Bleibt das Pferd in der Gasse stehen, darf der Helfer es antreiben.
3. Der Schrecktest

12 mal durch die Schreckgasse ohne Futterablenkung: Das Pferd läuft zehn Mal allein durch die Schreckgasse. Auf einem Notizblatt notieren Sie die Anzahl der Durchläufe – und später die Schreckreaktion. In Durchlauf 11 und 12 kommt das Schreckmonster zum Einsatz: Verstecken Sie den Flamingo erst hinter dem linken Sattelbock, dann hinter dem rechten. Das Pferd darf den Vogel vom Startpunkt aus nicht sehen. Nach dem 12. Durchgang machen Sie eine Pause.
Einstufung der Schreckreaktion: Beobachten Sie, wie das Pferd auf das Schreckmonster reagiert.

Stufe 0: Das Pferd guckt nicht zum Flamingo und läuft normal weiter.
Stufe 1: Das Pferd schaut den Flamingo mit einem Auge an. Vielleicht zeigt auch ein Ohr Richtung Flamingo.
Stufe 2: Das Pferd dreht den Kopf so, dass es den Flamingo mit beiden Augen anschaut. Mindestens ein Ohr zeigt zum Vogel.
Stufe 3: Das Pferd stockt, hält eventuell an. Es schaut den Flamingo an.
Stufe 4: Das Pferd schaut den Flamingo an. Es flieht und entfernt sich vom Schreckmonster.
Tipp: Behalten Sie das Pferd bis zum Ende der Schreckgasse genau im Auge. Manche Tiere zeigen erst eine Reaktion, wenn der Schreckreiz bereits hinter ihnen liegt. Vielleicht dreht das Pferd dann ein oder beide Ohren zurück und schaut schräg nach hinten.

12 mal durch die Schreckgasse mit Futterablenkung: Stellen Sie ans Ende der Gasse eine Futterschale, aus der sich das Pferd bedienen darf. Lassen Sie das Pferd zehn Mal ohne Schreckreiz durch die Gasse laufen. In Durchgang 11 und 12 kommt der Flamingo wieder zum Einsatz. Notieren Sie erneut die Reaktion.

Auswertung
Großer Reaktionsunterschied mit und ohne Futter: Konzentriert sich Ihr Pferd auf etwas, erschrickt es weniger. Nutzen Sie diese Erkenntnis fürs Training. Lenken Gegenstände wie Jacken auf der Bande Ihr Pferd ab, setzen Sie einen stärkeren Reiz. Konzentrieren Sie das Pferd beispielsweise mit Seitengängen, Volten oder Vorhandwendung mehr auf Ihre Hilfen.
Das Pferd reagiert gar nicht auf das Monster: Versuchen Sie bei solchen Typen im Training die Neugier zu wecken, etwa mit Cavaletti und Geländereiten. „Coolness ist gut, aber wir sind als Reiter darauf angewiesen, dass unser Pferd auf Reize reagiert – Hilfen sind nichts anderes“, so Gabor.
Das Pferd reagiert mit Futterablenkung stärker: „Der Leckerbissen hat die Aufmerksamkeit geweckt. Das Pferd nimmt alles intensiver wahr“, sagt die Trainerin. Das ist sogar gut. Pferde, die zuvor eher teilnahmslos ihr Programm abspulten, sind plötzlich wach.
Probieren Sie es im Training aus: Wecken Sie Ihr Pferd mit vielen Übergängen. Vielleicht reagiert es dann mehr auf Umgebungsreize, aber auch besser auf Hilfen.
Schlaue Pferde – was sie wirklich können – CAVALLO Im Gespräch mit Prof. Dr. Konstanze Krüger
Reiter wissen es schon lange – Pferde haben erstaunliche mentale Fähigkeiten. Man denke nur mal an Riegel vor Boxen oder Futterkisten, die von unseren Vierbeinern geöffnet werden. Pferde lernen vor allem durch Beobachtung von anderen Herdenmitgliedern oder auch uns Menschen. Diese Gewitztheit fasziniert auch Forscher: In der ersten Folge unseres CAVALLO-Podcasts unterhalten wir uns mit Konstanze Krüger, Professorin für Pferdehaltung an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen, über die mentalen Fähigkeiten von Pferden. Denn in ihrem Buchprojekt „The Beautiful Equine Mind“ sammelt die Forscherin genau solche Erlebnisse und erklärt, was hinter den geistigen Fähigkeiten der Pferde steckt.
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