Vom Schieben und Tragen
Kurze Frage an Sie: Was sollte Ihrer Meinung nach zuerst in der Ausbildung eines Reitpferds gefördert werden? Erst die Schubkraft, wie sie fürs Tritte und Sprünge verlängern benötigt wird, weil die Energie nach vorne erstmal da sein muss? Oder doch zuerst die Tragkraft, wie sie für versammelnde Lektionen, aber auch korrekt gerittene Ecken und Volten benötigt wird – weil die Bewegungsenergie erst gesammelt werden muss, bevor man sie nach vorne in den Schub entlässt? Oder gehört beides zusammen und lässt sich nicht so einfach trennen?
Nicht immer sind wir Reiter uns bei der Frage einig. Wir haben bei zwei versierten Dressur-Ausbilderinnen nachgefragt, wie ihre Antwort darauf aussieht und wann sie in der Pferdeausbildung die Schub- und wann die Tragkraft in den Vordergrund stellen. So viel vorab: Was man zuerst und wie angehen sollte, hängt vom Ausbildungsstand des Pferds, seinem Körperbau und Temperament ab. Wir zeigen, wie Sie diese Faktoren individuell berücksichtigen – und haben natürlich auch Tipps fürs Training, wie Sie bei Ihrem Vierbeiner den Schub und die Tragkraft optimal fördern.
Zuerst die Schub- oder die Tragkraft?
Bei der Antwort gibt es unterschiedliche Herangehensweisen. "In den Richtlinien der FN wird zuerst die Schubkraft entwickelt, dann die Tragkraft”, sagt Ruth Giffels. Das zeigt sich auch ganz klar an den Dressuraufgaben: Tritte und Sprünge verlängern wird beispielsweise gefordert, bevor die erste Versammlung von Pferd und Reiter verlangt wird. "Bei alten Reitmeistern kann man aber nachlesen, dass eine richtig gute Verstärkung nur gelingt, wenn das Pferd zuvor gut versammelt ist. Heißt: Es muss sich wie eine Feder spannen, hinten Last aufnehmen und daraus dann den Schub nach vorne entwickeln”, erklärt Claudia Butry. Beide Ausbilderinnen sind sich aber einig: Die Antwort auf die Frage, was man als Reiter zuerst in den Fokus nehmen sollte, hängt vom Pferd ab.

Arbeit über Cavaletti kann – je nach Stangenabstand – Schub- und Tragkraft verbessern.
Claudia Butry würde in den meisten Fällen sowohl Schub- als auch Tragkraft angehen. Wo Ihr Pferd Verbesserungspotenzial hat, können Sie erfühlen: "Mein Pferd sollte im Takt bleiben, das ist oberstes Kriterium. Die Bewegung sollte schwingen und fließen, ganz egal, ob ich das Tempo zurücknehme oder Tritte verlängere”, erklärt Claudia Butry. Stockt die Bewegung, haben Sie den Punkt gefunden, an dem Sie noch feilen können (beim Zulegen beispielsweise an der Schubkraft).
Ruth Giffels arbeitet gelegentlich mit Uta Gräf zusammen. Aus der Erfahrung heraus weiß sie: "Manche Pferde bringen durch ihre Zucht unglaublich viel Bewegungspotenzial mit. Bei solchen Bewegungskünstlern muss man oft nicht an der Schubkraft arbeiten; die haben diese Pferde. Sie müssen eher lernen, sich unter dem Reiter auszubalancieren. Man sollte also an der Tragkraft arbeiten.”
Apropos Bewegungspotenzial: "Man darf Schubkraft keinesfalls mit einem Stechtrab durch die Bahn verwechseln!”, sagt Claudia Butry. Um das zu unterscheiden, muss man nur sein Auge ein wenig schulen. "Die Rückenlinie fällt dann ab und hängt durch wie eine Badewanne. Die Pferde schaufeln hinten raus. Oft werden solche Pferde laut und fangen an zu stampfen.” Umgekehrt gilt auch: Wenn man die Tragkraft nicht in Schubkraft umwandeln kann, war das Tragen, war die Versammlung nicht echt, so Claudia Butry. "Denn dafür muss das Pferd an den Hilfen stehen.”

Auch Seitengänge wie das Schulterherein fördern die Tragkraft.
Ein weiterer Tipp von Ruth Giffels: Schauen Sie sich die Muskulatur Ihres Pferds an. "Eine massive Muskulatur an der Schulter und eine eher wenig ausgeprägte Muskulatur an der Hinterhand kann ein Zeichen dafür sein, dass ein Pferd sich mehr mit der Vorhand nach vorne stemmt und weniger von hinten schiebt”, erklärt Ruth Giffels.
Die Rolle des Ausbildungsstands
Bevor Reiter an der Schub- und Tragkraft feilen, gilt: "Takt, Losgelassenheit und Anlehnung müssen gegeben sein. Das Pferd trägt den Reiter ausbalanciert und tritt mit aktiver Hinterhand an die Reiterhand heran, auch in den Übergängen. Wenn ich diese Basis habe, kann ich mit dem Wechsel zwischen Schub- und Tragkraft beginnen”, erklärt Claudia Butry. Wichtig dabei: langsam vorgehen, also beispielsweise die Volten nach und nach verkleinern oder die Tritte nur für kurze Sequenzen verlängern.
Youngstern kann es helfen, wenn die Reiter zuerst an der Tragkraft feilen. "Manchmal werden junge Pferde wackelig im Hinterbein und drehen das Sprunggelenk einwärts. Wenn keine gesundheitlichen Probleme vorliegen, kann das ein Zeichen dafür sein, dass die Hinterhand nicht stabil genug ist. Dann hilft es, eher Übungen in den Fokus zu nehmen, die die Tragkraft fördern”, sagt Claudia Butry.
Ähnliches hat auch Ruth Giffels beobachtet. "Das Pferd einer Schülerin war hinten eher schwach und hat sich mit der Vorhand nach vorne gezogen. Das hat sich etwa daran gezeigt, dass er den Galopp nicht halten konnte und immer wieder ausfiel”, erzählt die Ausbilderin. Ihre Lösung in diesem Fall: immer wieder aus dem Schritt angaloppieren für kurze Reprisen – und jeden Fortschritt ausgiebig loben.
Energiefeder spannen und loslassen
Jetzt sammeln wir die Energie und lassen sie nach vorne raus: Mit diesen Übungen fördern Sie die Trag- und Schubkraft Ihres Pferds spielerisch.
Übung 1: Zirkel verkleinern un vergrößern
Bei Pferden, die beim Zulegen "heiß” werden und ins Rennen kommen, nutzt Claudia Butry die Zirkellinie. Haben Sie auch einen Heißsporn? Dann legen Sie auf der Zirkellinie zu. Gerät Ihr Pferd ins Rennen, machen Sie die Zirkellinie kleiner. "Das wird anstrengender für die Pferde, sie kommen von alleine zurück, und man kann sie feiner reiten”, sagt Ausbilderin Claudia Butry. Heißsporne können Sie auch an der kurzen Seite der ganzen Bahn zulegen lassen; die Bande wirkt dann als natürliche Bremse, und bevor die Pferde ins Rennen kommen, fangen Sie sie schon wieder ein.

Schön zu sehen: Auf kleiner Kreislinie tritt der Schimmel mehr unter und nimmt Last auf.
Die Zirkellinie können Sie auch umgekehrt nutzen: Verkleinern Sie den Zirkel und führen Sie dabei das Tempo zurück. Wenn Sie die Linie wieder vergrößern, legen Sie zu.
Hier können Sie alle Übungen zur Förderung der Schub- und Tragkraft bei Ihrem Pferd nachlesen:
Die Expertinnen

Claudia Butry A (FN), Neuroathletik-Trainerin sowie Bewegungstrainerin nach Eckart Meyners. Kurse gibt die Ausbilderin im deutschsprachigen Raum. www.neuesreiten.de

Ruth Giffels lernte u.a. bei Egon von Neindorff, Richard Hinrichs und Kurt Albrecht. Sie unterrichtet auf ihrem Hof und gibt Kurse in Deutschland, Österreich und Spanien. www.ruth-giffels.de