Gäbe es in der Medizin einen Preis für das am meisten unterschätzte Gewebe – die Faszien hätten gute Chancen zu gewinnen. Bis vor rund zehn Jahren dachte man, die weißen, festen Bindegewebshüllen seien passive Strukturen und dienten lediglich der Kraftübertragung. Heute weiß man: Faszien sind aktives Gewebe, ein bedeutendes Sinnesorgan im Innern des Körpers – und leider sehr störanfällig.
Einfluss auf die Bewegungen
Die Forschungen zweier Human-Mediziner waren ein Meilenstein für das Verständnis der Faszien. Die Wissenschaftler an der Universität Ulm konnten nachweisen, dass in Faszien sogenannte Myofibroblasten vorhanden sind. Das sind glattmuskelähnliche Bindegewebszellen, die sich aktiv zusammenziehen können. Damit stellte sich das frühere Bild von Faszien als "totes Gewebe" als gewaltiger Irrtum heraus. Tatsächlich haben die beweglichen Faszien einen wichtigen Einfluss auf den Bewegungsapparat – und können Muskelkraft sogar verstärken.
Zwischenzeitlich wurde intensiv über die Faszien geforscht, so dass wir heute viel mehr über das geheimnisvolle Labyrinth im Körper wissen. Und die Wissenschaft ist bemüht, das Gewebe noch weiter zu durchdringen. Es besteht hauptsächlich aus netzartig angeordneten Kollagenfasern, elastischen Fasern und einer wasserbindenden Grundsubstanz.
Umhüllung für die Muskeln
Faszien durchdringen den ganzen Pferdekörper wie ein dreidimensionales Geflecht. Es organisiert den Körper räumlich und hält ihn zusammen, indem es Hüllen, Kapseln, Bänder und Sehnen bildet. Diese sind im weiter gefassten Faszienbegriff eingeschlossen; im engeren Sinne wird das Wort Faszien nur für die flächigen Hüllen um die Muskeln verwendet.
"Die oberflächlichen Faszien liegen direkt unter der Haut. Sie fächern sich zum Körperinnern hin in die tiefen Faszien auf, die dann gardinenartig jeden einzelnen Muskel und jedes Organ umhüllen", erklärt Human- und Pferdeosteopathin Beatrix Schulte Wien, Leiterin des Deutschen Instituts für Pferdeosteopathie in Dülmen (DIPO). "Alles ist miteinander verbunden. Was sich auf die oberflächliche Faszie auswirkt, wirkt sich genauso auf die tiefen Faszien aus. Das ist wie bei einem Tischtuch: Wenn ich an einer Ecke ziehe, sehe ich die Falten, die sich bilden, auch am gegenüberliegenden Ende."
Faszien als größtes Sinnesorgan
Es ist verblüffend, was das Netz leistet. Als elastische Sehnen und Bänder an den Muskelenden dienen die Faszien mit ihrer seilartigen Struktur dazu, Muskelkräfte gezielt auf den Knochen zu übertragen. Als Muskelhüllen sind sie selbst aktiv, wie die Ulmer Mediziner zeigten: Durch die Kontraktionsfähigkeit der faszialen Muskelzellen verstärken sie ihre Spannung und erhöhen die Muskelleistung. Dieses Phänomen lässt sich gut bei Tieren wie Antilopen oder Kängurus beobachten: Derartig hohe Sprünge wären mit reiner Muskelkraft nicht möglich.
Das Bindegewebe, zu dem Faszien gehören, hat zudem viele Kapillaren, also feinste Blutgefäße. "Arteriolen bringen sauerstoffreiches Blut ins Gewebe und die Venolen transportieren Stoffwechselmüll hinaus", erklärt Beatrix Schulte Wien. Sogar einen Teil des Immunsystems beherbergen die Muskelhüllen: "Fresszellen" machen Abfallstoffe unschädlich.
Doch damit nicht genug: Die Faszien sind auch reich an Rezeptoren, die Reize an das Nervensystem weiterleiten. Für Physiotherapeut und Osteopath Benjamin Kohl von Equi Faszia in Plüderhausen sind sie damit sogar das größte Sinnesorgan im Pferdekörper: "Faszien sind für das Melden von Schmerz zuständig und für die Propriozeption, also die Wahrnehmung der Haltung und Lage des Körpers. Schmerz führt dazu, dass die Faszie als Bewegungsmelder nicht mehr richtig funktioniert."
Reiten mit aufgewölbtem Rücken

Faszien sind empfindliche Strukturen – vor allem bei gerittenen Pferden. Für Barbara Welter-Böller von der Fachschule für Pferdeosteopathie in Overath wird der Grundstein für gesunde Faszien in der Remontenzeit, also im Alter von drei bis fünf Jahren, gelegt: "Bis der gesamte Trageapparat mit Sehnen, Kapseln und Bändern und vor allem das für das Reiten so wichtige Nacken-Rückenband voll ausgereift sind, müssen die Faszien des Pferds zwei Jahre lang schonend auf Zug und Dehnung hin trainiert werden", erklärt sie. "Erst dann ist die volle Faszienreife erreicht."
Wie es um die Fasziengesundheit eines Pferds stehe, verrate die Durchtrittigkeit der Fesselgelenke. Probleme mit dem Sehnen- und Bandapparat in jungen Jahren kommen laut Welter-Böller meist davon, dass starke Muskeln – die sich viel schneller trainieren lassen als Faszien – an einem noch schwachen Bandapparat ziehen. Seien die Faszien hingegen einmal stark, bleibe dieser Zustand zirka ein Jahr lang erhalten, sagt Welter-Böller. "Danach fängt man wieder bei null an." Wichtig zu wissen, wenn man Pferde etwa nach Verletzungen antrainiert.
Entscheidend ist, das Pferd in gesunder Haltung zu reiten. "Das Pferd sollte unabhängig von der Reitweise immer mit aktivem, aufgewölbtem Rücken geritten werden", sagt Benjamin Kohl. "Ist das Pferd gut gymnastiziert, bleiben auch die Faszien elastisch."
Erholung für die Faszien
Faszien brauchen Erholung, um gesund zu bleiben. Wichtig ist Barbara Welter-Böller das Thema Regeneration: "Die Proteoglykane, Bestandteile der extrazellulären Matrix, speichern Wasser als wichtiges Schmiermittel der Faszien. Erfährt eine Stelle Druck und Reibung wie in der Sattellage, können sich die Proteoglykane nicht ausreichend mit Wasser vollsaugen." Je nach Höhe der Belastung rät die Osteopathin zu einer Regenerationszeit von einem bis mehreren Tagen, zum Beispiel nach einem mehrtägigen Wanderritt. Dann sollte das Pferd nicht unter dem Sattel, sondern auf andere Weise bewegt werden.
Was Faszien wirklich schadet: Verletzungen, Über- oder Fehlbelastung. Die gitterartige Struktur verändert sich, die Faszien verkleben. Schmerzen, Bewegungseinschränkungen und Rittigkeitsprobleme sind die Folge. Beatrix Schulte Wien stellt vor allem im Bereich der Rückenfaszie häufig Verklebungen und Schädigungen fest. "Man darf nicht vergessen, welchen enormen Druck der Sattel und das Reitergewicht auf die große Rückenfaszie ausüben", sagt die Osteopathin. "Verstärkt wird dies, wenn der Sattel nicht passt und der Reiter ungünstig sitzt und einwirkt oder beim Pferd zum Beispiel Blockierungen in den kleinen Wirbelgelenken vorliegen."
Geschädigte Faszien sind zum Glück behandelbar: "Verklebungen sind reversibel, können also gelöst werden", erklärt Schulte Wien. Mechanische oder Wärmeenergie bewirkt, dass die Faszie weicher und beweglicher wird. Kraftübertragung, Propriozeption und Nähr- sowie Abfallstofftransport funktionieren wieder. Den Effekt spürt der Therapeut oft schon während der Behandlung als Spannungsänderungen in der Faszie.
Manuelle Therapie vom Profi hilft geschädigten Faszien. Die Behandlung zielt darauf ab, das Gewebe zu lockern, die Durchblutung und die Durchwässerung zu fördern. Wie Therapeuten konkret vorgehen und welche Schwerpunkte sie setzen, unterscheidet sich aber zum Teil erheblich.
Für Barbara Welter-Böller sind Muskeln und Faszien untrennbar miteinander verbunden, bilden die Myofaszie. "Es ist nicht möglich, einen Muskel isoliert zu behandeln. Man behandelt immer die Faszie mit. So beeinflusst man Zellen und Gewebe, Knochen und Organe." Bei der Therapie lenkt sie ihr Augenmerk auf die Verschieblichkeit der Faszie in alle Richtungen. Zeigt das Pferd Unwillen oder Schmerz, verringert sie den Druck: "Respektiert man die Äußerung des Pferds nicht, resigniert es schlimmstenfalls und die Behandlung ist erfolglos."
Benjamin Kohls Behandlungsmethode orientiert sich an dem Fasziendistorsionsmodell aus dem Humanbereich, das die Ursache für Faszienprobleme auf eine oder mehrere von sechs typischen Verformungen (Distorsionen) zurückführt. Jede äußert sich durch eine typische Schmerzgestik des Patienten, was den Therapeuten bei der Behandlung lenkt.
In Anlehnung daran hat Benjamin Kohl für Pferde ein spezielles Abdrückraster entwickelt. "In der Faszie sind Verletzungen gespeichert wie auf einer Festplatte. In der Behandlung löschen wir die falschen Informationen und überschreiben sie mit neuen. Das ist wie ein Reset", erklärt der Osteopath. Manchmal muss er dazu über den Schmerzpunkt hinausgehen: "Durch Druck und Reibung rege ich die Ausschüttung von Histamin und dem Bindungshormon Oxytocin an, das Pferd fühlt sich wohl. An diesen Punkt müssen wir mit unserer Behandlung kommen."
Beatrix Schulte Wien, die am DIPO nur Tierärzte und Humanphysiotherapeuten zu Pferdeosteopathen ausbildet, sagt: "Die Grundlage der Osteopathie ist die Kenntnis der Anatomie, also die Lehre vom Aufbau des Körpers. Werden die weichen Gewebe behandelt, müssen auch die Gelenke beweglich sein. Nur dann kann der Körper richtig funktionieren – und nur dann erfolgt eine ausreichende Durchblutung sowie eine genügende Ver- und Entsorgung der Zellen." Wird dieser Mechanismus eingeschränkt, verspannen sich auch die Faszien.
Äußert ein Pferd bei den Behandlungsgriffen vermehrt Spannung oder Schmerz, indem es etwa die Ohren anlegt, die Nüstern hochzieht oder der Blick Abwehr signalisiert, verringert die Expertin die Intensität ein wenig, bis das Pferd entspannt und dabei den Hals senkt, "so wie beim Reiten in der Lösungsphase".
Wichtig: Bei Schmerzen oder Rittigkeitsproblemen sollte man die Faszien nur vom Fachmann behandeln lassen. Wie Sie dem sensiblen Gewebe Ihres Pferds selbst viel Gutes tun können? CAVALLO gibt Tipps für gesunde Faszien bei Pferden: