Als der Reitlehrer sie das erste Mal bedrängt, ist Karola elf Jahre alt. Er nimmt sie nach einer erfolgreichen Turnierprüfung in den Arm, gibt ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich dachte, der freut sich mit mir“, erzählt die heute 21-Jährige. Ihren wahren Namen möchte sie nicht nennen. Die Umarmungen, Küsse und Grapscher ihres Reitlehrers gehörten jahrelang zu ihrem Stallalltag wie Misten und Striegeln.
Karolas Geschichte ist kein Einzelfall. Das Bundeskriminalamt zählte 2009 rund 17.000 angezeigte Fälle sexueller Übergriffe auf Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre. Die wahre Zahl kennt keiner. „Wir schätzen, dass jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder siebte bis neunte Junge bis zum 18. Lebensjahr Opfer eines sexuellen Übergriffs wurde“, sagt Ursula Enders von der Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen Zartbitter e.V. Häufig passieren Übergriffe im Sportverein: Dort kommen Täter leicht an Opfer. Körperkontakt gehört oft zum Training. So lassen sich manche Grapschereien als zufällige Berührungen tarnen, etwa bei Hilfestellungen und Haltungskorrekturen.
Manche Täter nutzen auch die Möglichkeit, sich den Kindern nackt unter der Dusche zu zeigen. „Das sind Testrituale“, erklärt Ursula Enders. „Kinder, die sich so etwas gefallen lassen, sind potenzielle Opfer.“ Im Reitsport benutzen die Täter zudem das Pferd, um Kontakt zu Opfern aufzubauen oder auch Druck auszuüben. Das Problem ist der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) bewusst. „Wir nehmen das Thema sehr ernst“, sagt FN-Sprecher Dr. Dennis Peiler. „Es ist Teil der Trainerausbildung.“ Zudem soll ein Arbeitskreis Vorschläge für eine bessere Prävention erarbeiten; noch soll es einen Ansprechpartner für Betroffene geben.
Schnelle und unbürokratische Hilfe bieten die Nummer gegen Kummer (0800-1110333) sowie die Hotline der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (0800-2255530).
KONTAKT:
Zartbitter Köln e.V.
Sachsenring 2 - 4
50677 Köln
Tel. 022 1 – 31 20 55
Fax: 022 1 – 9 32 03 97
www.zartbitter.de















Oft wird Missbrauch schweigend ertragen
Angehende FN-Trainer müssen zur Zulassung einer Trainerprüfung schon jetzt ihr Führungszeugnis vorlegen. Wie wirkungsvoll das ist, bleibt fraglich. Viele Fälle werden außergerichtlich geregelt. Damit gibt es auch keinen Eintrag im Führungszeugnis. Privatställe erreicht die FN-Initiative zudem nicht. Für Karola käme dies alles sowieso zu spät. „Als ich anfing zu reiten, gab es bei uns zu Hause viele Probleme. Der Reitlehrer hatte immer ein offenes Ohr. Ich fühlte mich wirklich wohl bei ihm“, erzählt sie.
Schon bald darf sie eines seiner Ponys reiten. Sie fühlt sich bestätigt. „Das ist eine klassische Täterstrategie. Er schafft Vertrauen und Abhängigkeiten“, sagt Ursula Enders. Lehrbuchhaft spielt Karolas Reitlehrer die Mädchen auf dem Hof gegeneinander aus. Wer nicht spurt, wird mit Pferdeentzug bestraft; psychologischer Druck ist an der Tagesordnung. Dennoch bemüht sich Karola um seine Zuneigung, hält still, wenn er sie in der Box küsst oder anfasst. Sie fühlt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sprechen kann sie darüber nicht: Ihren Eltern mag sie sich nicht anvertrauen, andere Bezugspersonen fehlen. „Mein ganzes Leben spielte sich auf dem Hof ab.“ Dort gibt es nur den Reitlehrer, die Pferde und die anderen Mädchen. Doch die sind Konkurrentinnen, keine Freundinnen.
Etwas „richtig Schlimmes wie eine Vergewaltigung“ sei ja nicht passiert, redet sich Karola ein. „Und ich hatte den Reitlehrer ja auch lieb, wollte ihm nicht schaden.“ Sie schweigt und wird belohnt: Zeitweise darf sie drei seiner Sportpferde reiten. So geht das jahrelang. Erst als sie ein fremdes Pferd als Reitbeteiligung übernimmt, kann sie sich befreien. Später geht sie mit anderen Betroffenen gegen den Mann vor. Er muss eine Strafe zahlen, wechselt den Verein. Karola ist heute in therapeutischer Behandlung.
Schnelle und unbürokratische Hilfe bieten die Nummer gegen Kummer (0800-1110333) sowie die Hotline der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (0800-2255530).
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Wann wird eine Grenze verletzt?
CAVALLO: Wie erkennt man sexuelle Belästigung bei Kindern?
ENDERS: Es gibt den sogenannten Drop-Out, das heißt, ein heißgeliebtes Hobby wird von einem Tag auf den anderen unter einem Vorwand eingestellt. Ansonsten gibt es kaum eindeutige Zeichen, die Eltern warnen könnten. Sie erfahren davon meistens als Letzte. In der Regel vertrauen sich Kinder und Jugendliche zuerst ihren besten Freunden an.
Wie kann man seine Kinder denn schützen?
Indem Sie ihnen klar machen, dass sie ein Recht auf Selbstbestimmung haben. Wenn jemand Grenzen verletzt – das muss nicht nur ein Grapscher sein, oft handelt es sich auch um verbale Gewalt – dürfen sie sich wehren. Auch indem sie Hilfe holen. Das ist kein Petzen und kein Verrat. Eltern sollten sich außerdem über Täterstrategien informieren.
Warum treffen Opfer bei anderen häufig auf Ablehnung?
Viele Menschen können sich einfach nicht vorstellen, dass sich der nette Vereinsreitlehrer an einem Kind oder Jugendlichen vergreift. Wer den Vorwurf glaubt, muss sich außerdem die Frage nach der eigenen Mitschuld stellen. Zum anderen gelten die Täter nach außen meist als untadelig und wehren Vorwürfe oft ab, indem sie sich selbst als Mobbing-Opfer darstellen. Deswegen darf nicht sein, was nicht sein darf. Für die Opfer ist diese Erfahrung oftmals genau so belastend wie die ursprüngliche Verletzung.
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