Natürliches Verhalten: Herdendynamik und Fluchtreiz
Die Rangfolge in Frage zu stellen, gehört zum natürlichen Überlebensprogramm eines Pferds. So wird gewährleistet ist, dass die stärksten und cleversten Tiere an der Spitze der Herde stehen. Auch uns gegenüber testen viele Pferde mal sanft und mal deutlicher, ob wir als Leittier souverän sind.
Wenn sie uns auf den Leib rücken oder anrempeln, verhalten sie sich nicht unbedingt dominant oder wollen uns ärgern. Oft fragen sie nur, wie weit sie gehen können, bevor wir sie in ihre Schranken weisen. Deshalb ist es wichtig, dass wir solch ein Verhalten erkennen und jederzeit souverän und gelassen reagieren. Dann akzeptiert unser Pferd uns weiterhin als ranghöheres Herdenmitglied und schenkt uns Vertrauen.
Angst und Bedrohung lösen bei Pferden den angeborenen Fluchtinstinkt aus. Das Problem: In den Augen des Pferds ist auch der Mensch auf Grund seiner Konstitution ein gefährlicher Jäger. „Vor allem, wenn das Pferd nicht so reagiert, wie wir es gerne hätten, und wir ärgerlich oder wütend werden, kommt das Raubtier in uns zum Vorschein“, sagt Berni Zambail, Horsemanship-Trainer aus Untersiggenthal, Schweiz (www.zambail.com).
Damit eine vertrauensvolle Beziehung möglich ist, muss der Mensch sein Raubtierverhalten kontrollieren. „Greift ein Raubtier an, bewegt es sich schnell und lässt nicht mehr los, wenn es das Pferd einmal erwischt hat. Diesen Eindruck dürfen wir dem Tier deshalb nicht vermitteln“, erklärt Zambail.
Zieht das Pferd etwa am Strick, ist es wenig sinnvoll, mit aller Kraft dagegen zu halten. „Ich halte in so einer Situation nur mit leichtem Druck gegen und gehe erst einmal mit der Bewegung des Pferds mit. Sobald ich merke, dass es wieder anfängt zu überlegen, lasse ich locker und gebe dem Pferd wieder das Gefühl, dass es frei ist.“
Kommunikation im Alltag: Wie wirken wir aufs Pferd?
Im Stall stehen wir unter Dauerbeobachtung. Denn Pferde lesen unsere Körpersprache unablässig. Egal, ob beim Putzen, bei der Bodenarbeit oder unterm Sattel – nur wer einheitlich und klar kommuniziert, wird fürs Pferd zu einem verlässlichen, vertrauenswürdigen Partner. Widersprüchliche Signale oder unberechenbares Verhalten sorgen dagegen für Verunsicherung und fördern Misstrauen.
Das menschliche Gesicht ist fürs Pferd wie offenes Buch: „Durch unsere Mimik kommunizieren wir fürs Pferd deshalb auf sehr natürliche Weise“, sagt Dr. Vivian Gabor, Verhaltensforscherin und Trainerin aus Greene/Niedersachsen (www.viviangabor.de). Bei der Frei- und Bodenarbeit oder an der Longe nützt das besonders. Ein lächelndes, freundliches Gesicht wirkt positiv und motivierend. Damit vermitteln Sie dem Pferd: Alles in Ordnung, du verhältst dich richtig. Ein strenger, ernster Blick dagegen wirkt mahnend oder sogar einschüchternd.
Pferde unterscheiden viele Stimmsignale. Sie verarbeiten akustische Reize im Gehirn vermutlich so wie Menschen. „Sie registrieren etwa, ob etwas freundlich oder unfreundlich klingt“, erklärt Dr. Barbara Schöning, Fachtierärztin für Verhaltenskunde (www.struppi-coverhaltenstherapie.de). Gut sind kurze, klar unterscheidbare Worte, die den Inhalt spiegeln: ein langgezogenes „braaaav“ als Lob, ein knackiges „auf“ als treibendes Signal oder eine scharfes „nein“, wenn das Pferd sich daneben benimmt. Auch Geräusche eignen sich als Signale, etwa Zischeln als Kommando fürs Rückwärts.
Die innere Stimmung ist enorm wichtig, findet Ausbilder Wolfgang Marlie aus Scharbeutz in Schleswig-Holstein (www.reiterpensionmarlie.de). Eine ruhige, freundliche und liebevolle innere Haltung spiegelt sich in einer entspannten Körperhaltung und positiver Körperspannung wider. Stress, Ungeduld oder Wut wirken dagegen angsteinflößend und demotivierend aufs Pferd. Denn dabei verkrampft der Körper und sendet jede Menge negative Energie aus.
So testen Sie Ihre Körpersprache: Wie reagieren fremde Pferde, wenn Sie sie auf der Koppel rufen? Nähern sich die Tiere entspannt, wenden sie Ihnen den Kopf zu und spitzen die Ohren? Dann wirken Sie freundlich und ungefährlich. Halten die Pferde Abstand, wirken unsicher oder zeigen Übersprungshandlungen (z.B. Herumsuchen am Boden, Kopfschlenkern), erscheint Ihre Körpersprache unklar, ablehnend oder bedrohlich. Vielleicht stehen Sie zu frontal und aufrecht oder Ihre Stimme verrät Ungeduld.
Pferdesprache üben: Kästchenspiel
Wolfgang Marlie übt mit neuen Schülern oft das „Kästchenspiel“, wie er es nennt. „Dafür male ich mit der Fußspitze ein Kästchen in den Sand und bitte die Schüler, ein Pferd, das frei in der Bahn steht, in dieses Kästchen zu dirigieren – und zwar ohne Hilfsmittel, sondern nur durch Treiben, also durch die Sprache, in der Pferde miteinander kommunizieren.“
Bei diesem Spiel geht es Marlie darum, dass Schüler ein System entwickeln, das der Vierbeiner verstehen kann. „Dafür müssen sie so dosiert treiben, dass das Pferd davon einerseits beeindruckt ist, sich von dieser Stärke angezogen fühlt. Andererseits dürfen sie es nicht überfordern, damit es nicht flieht.“
Volle Konzentration: Wie aufmerksam sind Sie?
Der Vierbeiner soll prompt auf all unsere Reize reagieren und Signale in erwünschtes Verhalten umsetzen. Doch wie steht es mit unserer Aufmerksamkeit? Ein Plausch mit der Stallnachbarin oder noch kurz etwas auf dem Handy checken – oft sind Reiter selbst nicht hundertprozentig bei der Sache.
Trotzdem wollen wir, dass unsere Pferde konzentriert mitmachen und in Sekundenschnelle reagieren. Das ist unfair: Nur wer selbst fokussiert und aufmerksam ist, darf dies auch vom Pferd fordern. Sind wir abgelenkt, entgehen uns außerdem womöglich wichtige Signale, die unser Pferd sendet.
Feine Kommunikation für eine gute Beziehung: Natural Horsemanship
Pferde besser verstehen: „Beim Natural Horsemanship geht es darum, unsere Pferde als Individuen mit speziellen Bedürfnissen zu begreifen“, sagt Berni Zambail, Parelli Natural Horsemanship Instructor.
Horsemanship-Ikone Pat Parelli entwickelte dafür ein spezielles Analyseschema, das sogenannte Horsenality – abgeleitet von den englischen Wörtern „horse“ und „personality“. Dabei werden zwei Kriterienpaare unterschieden, die miteinander kombiniert, die Persönlichkeit eines Pferds beschreiben: Left-Brain oder Right-Brain sowie Introvert oder Extrovert.
Left-Brain-Pferde gelten als dominant und selbstsicher, Right-Brain-Pferde dagegen als ängstlicher und emotional. Extrovertierte Pferde zeigen ihre Emotionen deutlicher nach außen, während sich bei introvertierten Pferden viel unter der Oberfläche abspielt. Daraus ergeben sich vier Charakter-Typen:
Left-Brain-Extroverts: Sind oft verspielt und lernen schnell, sie brauchen daher viel Abwechslung und Beschäftigung, sonst werden sie übermütig.
Right-Brain-Extroverts: Sind oft hibbelig und brauchen Beständigkeit. Am besten lernen sie in kurzen, einfachen Einheiten, bei denen sie sich nicht zu lange konzentrieren müssen.
Left-Brain-Introverts: Gelten als faul oder phlegmatisch. Sie arbeiten am besten mit, wenn wir ihnen einen klaren Fokus geben.
Right-Brain-Introverts: Sind oft schüchtern, gehen Konfrontation aus dem Weg. Ihr Vertrauen muss langsam gewonnen werden.
„Reiter müssen vor allem unterscheiden können, ob ein Pferd aus Angst oder Dominanz heraus handelt“, sagt Berni Zambail. „Packe ich ein ängstliches Pferd an, als sei es dominant, wird es noch ängstlicher oder sogar panisch. Gehe ich mit einem dominanten Pferd zu behutsam um, wird es meine Führung in Frage stellen“.
Verständlich kommunizieren: Die Kommunikation im Natural Horsemanship soll am Boden und im Sattel immer feiner, die Hilfen immer leichter werden. Bei Pat Parelli gibt es dazu etwa die „4 Phasen der freundlichen Bestimmtheit“: Eine Hilfe wird über vier Intensitätsstufen gesteigert, Phase 1 entspricht einer leichten Berührung. Dann wird der Druck von Stufe zu Stufe erhöht, bis das Pferd reagiert.
Wichtig dabei ist, den Druck nicht vor der Reaktion wegzunehmen. Sonst tritt kein Lerneffekt ein. Der Reiz in Phase 1 sollte so leicht wie möglich gegeben und mit jedem Mal noch weiter reduziert werden. So wird das Pferd von Mal zu Mal früher reagieren. Steigen Sie immer gleich mit einer Hilfe in Phase 4 ein, stumpft Ihr Pferd ab und wird zäh.
Kraulen für die Freundschaft: Allogrooming
„Gegenseitiges Beknabbern ist fürs soziale Miteinander von Pferden sehr wichtig“, erklärt Verhaltens-Profi Dr. Barbara Schöning. Der Mensch kann die soziale Fellpflege imitieren. Kraulen Sie mit gekrümmten Fingern an Widerrist oder Mähnenkamm.
Ihr Pferd darf Sie im Gegenzug ebenfalls „beknabbern“. Untereinander kraulen sich die Tiere jedoch nicht nur mit den Lippen, sondern auch mit blanken Zähnen – auf der Menschenhaut gäbe das mindestens blaue Flecke. „Wenn Ihr Pferd zu grob wird, hören Sie auf zu kraulen und gehen ein paar Schritte weg“, rät Dr. Schöning. Dann starten Sie das Kraulen von neuem. Schnell wird Ihr Pferd verstanden haben, dass die Zähne bei Ihnen tabu sind.
Clever belohnen: Der Clicker als Kommunikationshilfe
„Lernen findet statt, wenn das interne Belohnungssystem aktiviert wird“, erklärt Dr. Barbara Schöning. Belohnungen sind Dinge, die das Pferd braucht oder sehr gerne hat, etwa Futter oder Kraulen. Um exakt zu belohnen, wenn der Vierbeiner das erwünschte Verhalten zeigt, hilft ein Belohnungssignal, etwa vom Clicker. Das Geräusch zeigt dem Pferd, dass es a) in diesem Moment alles richtig macht, und b) eine attraktive Belohnung im Anmarsch ist.
Belohnungssignal einführen: Stellen Sie sich neben Ihr Pferd, clicken Sie und reichen sofort Futter oder kraulen Ihr Pferd. Wiederholen Sie diese Abfolge öfter. Ein bestimmtes Verhalten fordern Sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das Pferd soll einfach ruhig und entspannt dastehen, während es den Clicker kennenlernt.
Überprüfen: Ob Ihr Pferd die Bedeutung des Clickers verstanden hat, erkennen Sie, wenn es zu einem unerwarteten Moment mit Aufmerksamkeit auf das Geräusch reagiert, also hinschaut und interessiert die Ohren spitzt.
Trainingsplan: Bevor Sie eine Übung beginnen, überlegen Sie, wie Sie das Training aufbauen wollen. Welche Etappen soll Ihr Pferd für die Übung bewältigen? Welches Verhalten sollten Sie daher belohnen?
Jetzt geht's los: Immer, wenn Ihr Pferd das gewünschte Verhalten zeigt, clicken Sie und geben direkt im Anschluss ein Leckerli oder kraulen Ihr Pferd.
Übrigens: Auch ein Wort kann als Belohnungssignal dienen. Das Stimmsignal muss jedoch jedes Mal absolut einheitlich gesagt werden. Verwenden Sie kein Wort, das dem Pferd auch in anderen Situationen begegnen würde, sondern einen ganz neuen Begriff.
Die Kraft der Gedanken: Kommunikation mit "Inneren Bildern"
„Innere Bilder erscheinen vor dem inneren Auge wie ein Foto oder Film, wenn wir uns an bestimmte Dinge erinnern“, erklärt Nicole Künzel. Die Dressurausbilderin aus Burgwedel in Niedersachsen (www.evipo.de) hat sich intensiv mit ihrer Wirkung beschäftigt und integriert sie ins eigene Training. Schöne Erlebnisse und Glücksgefühle sorgen für positive innere Bilder. Genauso können Bilder, die uns stressen, etwa ein früherer Sturz vom Pferd, zu Sorge, Angst und Verspannungen führen. Auch ein Geruch, ein Gefühl oder ein Geräusch rufen innere Bilder hervor.
Wie wirken innere Bilder aufs Pferd? Als Fluchttier ist das Pferd darauf angewiesen, kleinste Signale zu registrieren. Innere Bilder, egal ob positiv oder negativ, beeinflussen unsere Körpersprache, Stimmung und Energie – all das nimmt das Pferd ganz genau wahr, etwa über unseren Herzschlag oder die Körperspannung. Stimmen Sie sich deshalb schon zu Hause positiv auf den Umgang mit dem Pferd ein, indem Sie sich schöne Ereignisse vor Augen rufen, etwa einen Ausritt bei Sonnenschein.
„Ein positives, klares Bild, von dem, was ich mir von dem Pferd wünsche, etwa eine schöne Trabverstärkung, sorgt außerdem dafür, dass ich meine Hilfen klarer gebe“, erklärt Nicole Künzel. Und wenn eine Übung mal nicht klappt: „Bleiben Sie trotzdem weiter positiv und freundlich in Ihrem Bild. Das überträgt sich ebenfalls aufs Pferd.“
Innere Bilder können Reiter auch selbst positiv beeinflussen. Die prägenden Vorstellungen beruhen zwar zum Großteil auf Erinnerungen und Lernerfahrungen. Der Mensch kann aber auch selbst bewusst positive innere Bilder erzeugen. „Ein gut ausgebildetes Lehrpferd vermittelt uns zum Beispiel, wie sich ein schön schwingender Pferderücken anfühlen sollte“, sagt Künzel.
Genauso helfen Kenntnisse über die Anatomie und Biomechanik, um eine genaue Vorstellung davon zu bekommen, wie der Pferdekörper „funktioniert“. Dieses erfühlte oder erlernte Wissen speichert das Gehirn ab, nach vielen Wiederholungen lässt es sich ganz automatisch abrufen. So können wir uns auf andere Dinge konzentrieren, wie zum Beispiel auf eine neue Lektion.
Nicole Künzel arbeitet auch gerne mit bewussten Assoziationen. Haben Sie beispielsweise Probleme, aufrecht im Sattel zu sitzen? „Stellen Sie sich vor, aus Ihrer Körpermitte scheint ein schönes Licht und öffnet Ihre Brust“, sagt Nicole Künzel „Schon wird der Sitz besser.“ Auch eines Ihrer Vorbilder im Sattel zu beobachten oder beim Reiten mit Gleichgesinnten zu trainieren, sorgt für positive innere Bilder.
Reiter im Dialog: Das Spiel mit Fragen und Antworten
„Reiter sollten keine Monologe halten, in denen sie die Tiere mit einer Anforderung und Hilfe nach der anderen überfluten“, sagt Wolfgang Marlie. „Ich achte immer darauf, mit dem Pferd in einen Dialog einzutreten. Nach jedem Wunsch, den ich an das Pferd habe, warte ich seine Antwort ab, um aus ihr abzuleiten, welcher Wunsch als nächstes passend sein könnte.“
Wie kommen Hilfen durch? Möglich, dass Sie schnalzen, um das Pferd anzutreiben, es aber nicht reagiert, weil Geräusche oder anderen Pferde es ablenken. Vor der nächsten Hilfe sollten Sie es nun zunächst aufmerksam machen.
„Beim Reiten fordere ich meine Schüler außerdem dazu auf, anfangs jede Hilfe erst einmal einzeln zu geben. So können sie prüfen, ob das Pferd sie verstanden hat und sie vom Reiter richtig ausgeführt wurde“, sagt Wolfgang Marlie.
Reiten Sie beispielsweise im Schritt auf dem Hufschlag, und nehmen Sie nur den inneren Zügel an. Reagiert Ihr Pferd und gibt mit dem Kopf in diese Richtung nach? Nehmen Sie dann den inneren Schenkel dazu und prüfen Sie, ob das innere Hinterbein vermehrt untertritt. So können Sie etwa Schritt für Schritt wichtige Bausteine für das Schulterherein vorbereiten.
Impuls-Reiten für die Selbstständigkeit
In Arbeitsreitweisen wie dem Westernreiten gilt: Eine Hilfe wird einmalig gegeben, um dem Pferd Richtung und Tempo anzusagen. Danach soll das Pferd selbstständig beides beibehalten.
Schon bei der Bodenarbeit lernen die Pferde, Gangart und Richtung erst zu ändern, wenn ein Signal des Menschen sie dazu auffordert. In Kombination mit gezieltem Krafttraining und Gymnastik sind die Tiere dadurch später in der Lage, Takt, Biegung und Körperspannung auch unterm Sattel selbstständig zu halten.
Der Grundsatz dabei: Geben Sie eine Hilfe immer nur solange, bis das Pferd reagiert, es etwa angaloppiert ist oder die Richtung geändert hat. Danach lassen Sie alle Hilfen weg, bis Sie vom Pferd etwas anderes möchten oder das Pferd ungefragt Richtung oder Tempo ändert.