Manchmal ist es beim Reiten wie verhext. Da übt man Lektionen und Hufschlagfiguren – und trotzdem fühlt es sich nicht so federleicht an, wie man sich das vorstellt. Oder man macht Sitzübungen, turnt auf dem Pferd oder der Matte – und merkt: Da fehlt ein Quäntchen, das könnte noch besser gehen! Woran liegt das nur, wenn man keine Fortschritte merkt?
Fragt man dies Marc Nölke, liegt für ihn die Antwort auf der Hand und die Ursache für solche Reiter-Probleme im Kopf. Genauer: in Gehirn- und Nervenzellen, die nicht optimal zusammenarbeiten. Das ist aber kein Grund, den Kopf in den Hallensand zu stecken, denn an diesen Problemen lässt sich arbeiten.
Neuro-Rider kombiniert Wissen aus der Neurologie mit Bewegungswissenschaft
Marc Nölke kennt ähnliche Einschränkungen aus seiner eigenen Geschichte: Der Skispringer konnte nach einem schweren Sturz in der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 1992 in Albertville nicht mehr an seine Leistung anknüpfen. Heute weiß er, woran das lag: "Die Reize aus meiner Umgebung wurden einerseits nicht gut aufgenommen und andererseits nicht gut im Gehirn verarbeitet."
Klingt einfach und einleuchtend; aber bis er zu dieser Erkenntnis kam, dauerte es 20 Jahre. Eine Begegnung mit dem Amerikaner Dr. Eric Cobb war wegweisend: Athletentrainer Cobb verknüpfte Erkenntnisse aus der Neurologie (der Lehre vom Nervensystem) mit der Bewegungswissenschaft. Fortan widmete sich Marc Nölke als Coach genau diesem Mix: der sogenannten Neuroathletik.
Nur wenn das Gehirn gute Informationen erhält, kann der Reiter fein reagieren
Eher durch Zufall kam der Ex-Skispringer, der vorwiegend Wintersportler, Golfer und Fußballer coacht, zum Reiten. Nölke unterhielt sich mit einem Bewegungstrainer nach Eckhart Meyners. Daraus entstand eine detaillierte Fortbildung namens "Neuro-Rider". Hier lernen die Teilnehmer, wie sich Wissen aus der Neurologie für Reiter nutzen lässt. Kurz zusammengefasst: Reiter können feiner einwirken, wenn sie neurologische Übungen statt Schulterherein auf der Agenda haben.

Länger erklärt: Unser Gehirn empfängt über den Gleichgewichtssinn im Ohr, über die Augen und durch Sensoren in Muskeln, Gelenken und der Haut Informationen über unsere Umgebung (etwa darüber, wie sich das Pferd unterm Sattel bewegt) und die eigene Körperlage. Das Gehirn sortiert diese Infos und leitet entsprechende Befehle über die Nerven an die Muskeln weiter, sodass wir etwa unser Gewicht im Sattel korrekt verlagern.Damit das reibungslos funktioniert, muss zuerst der Input stimmen, also die Informationsaufnahme.
Wie gut wir unsere Umwelt wahrnehmen, lässt sich trainieren. Hört sich in der Theorie gut an – wie profitiert ein Reiter in der Praxis davon? Das wollte CAVALLO genauer wissen und bat zwei Reiterinnen zum Neuro-Rider-Test. Für uns stiegen Simone Hörber und Claudia Butry in den Sattel, ließen sich von Nölke analysieren, Gehirn- und Nervenzellen stimulieren – und ritten nochmal. Mit, soviel sei verraten, einem eindeutigen Ergebnis.

Simone Hörbers schwache Seite im Sattel liegt rechts: Weil sie als Polizistin hier ihre Dienstwaffe trägt, hängt sie leicht auf diese Seite. Ihr rechtes Bein ist zudem unruhig; daher wird die Reiterin etwas instabil im Sattel. Marc Nölke hat nach wenigen Minuten eine Idee, wo er anfangen könnte: an der rechten Wade. Hier hat Simone Hörber eine Narbe, "das beeinträchtigt sie sensorisch", erklärt Nölke – und packt Stimmgabel und Zahnbürste aus.

Das Gehirn hat eine innere Landkarte für den Körper; die muss präzise sein
Zuerst schlägt Nölke die Stimmgabel an und hält sie an unterschiedliche Stellen der Waden. Anschließend wiederholt er den Test mit der Zahnbürste und variiert dabei den Druck. "Das fühlt sich nicht überall gleich an; rechts spüre ich das weniger deutlich als links", gibt ihm die Reiterin Feedback.
Eine Ursache für ihre Probleme im Sattel: "Was man nicht spürt, kann man auch nicht gut koordinieren und bewegen. Das Ziel ist daher, die innere Landkarte, die unser Gehirn von unserem Körper hat, zu präzisieren. Dann bewegt man sich auch im Sattel besser. Denn Spüren kommt vor Bewegen", sagt Marc Nölke.

Also bringt er Simone Hörbers Nerven zum Feuern: Er testet verschiedene Rezeptoren, drückt spitze und stumpfe Gegenstände auf die Waden, lässt sie die Zehen Richtung Knie ziehen, Knie und Sprunggelenk rotieren und schreibt mit den Fingern Zahlen auf die Wade, die Simone Hörber benennen soll. Dann soll die Reiterin mit den Augen einen Punkt fixieren und den Kopf bewegen (siehe Magic Drill 4).
"Die Augen bleiben nicht stabil auf dem Fokuspunkt. Das Gleichgewichtssystem spielt also nicht mit den Augen zusammen", stellt Marc Nölke fest. Die Reiterin bekommt daher einen Kopfhörer aufgesetzt, der einen Rhythmus vorgibt. In diesem Rhythmus soll sie auf dem Pferd den Kopf, nicht aber die Augen bewegen – und dann antraben.

Das Ergebnis ist phänomenal: "Ihr rechtes Bein liegt viel besser am Gurt, sie sitzt stabiler und zentrierter. Ihr Pferd ist besser im Takt und lässt den Hals fallen", beobachtet Simones Reitlehrerin Claudia Butry von unten. Und was sagt die Reiterin selbst? "Ich fühle mich lockerer und vor allem mein rechtes Sprunggelenk deutlicher", ist sie begeistert.
Bewegung und Gangmuster verraten, wo Probleme sitzen könnten
Fallen die Effekte bei Claudia Butry ähnlich aus? Die Bewegungstrainerin nimmt an der Neuroathletik-Fortbildung teil, hat sich vom Coach aber noch nicht analysieren lassen. Dafür lässt Nölke sie nun ein paar Schritte auf dem Feldweg gehen. "Man erkennt sehr viel daran, wie sich jemand bewegt, geht und sogar spricht", erklärt er und fragt die Reitlehrerin aus: Wo liegen ihre Probleme?

"Mir fallen Rotationsbewegungen mitunter schwer. Ich habe zudem Asthma und kürzlich eine Bronchitis auskuriert; da bleibt mir manchmal noch die Luft weg", berichtet Butry. An genau diesen Atemproblemen setzt Marc Nölke nun an. "Die Atmung hat großen Einfluss auf alles, was wir tun; schon allein weil beim Einatmen neun und beim Ausatmen acht Muskeln beteiligt sind." Hakt es hier, wirkt sich das auch auf andere Muskeln aus, die im Sattel nötig sind.

Hilfsmittel verbessern das Gefühl fürs Atmen
Also lässt der Neuro-Coach Claudia Butry ein- und ausatmen; dabei soll die Trainerin abwechselnd den Oberkörper beugen, den Kopf auf den Schultern ablegen oder sich eingerollt auf eine Matte legen. Dann zückt er einen Atemmuskeltrainer: Dieses kleine Gerät soll Claudia Butry in den Mund nehmen. Über ein Stellrad lässt sich einstellen, wie viel Luft man einatmet. "Bei einem leichten Widerstand werden bestimmte Areale im Mittelhirn aktiviert. Das kann die Spannung der Beugemuskulatur verbessern", erklärt Marc Nölke.

Ein Gummiband um die Rippen soll das Bewusstsein für die Atmung verbessern (siehe Magic Drill 5). Claudia Butry steigt damit in den Sattel – und ist vom Ergebnis ein wenig überrascht: "Ich fühle mich zehn Zentimeter größer und viel präsenter auf dem Pferd." Berittstute Romy spiegelt das: Sie lief zuvor schon gut, jetzt schwebt sie förmlich über den Platz. Gutes Reiten beginnt tatsächlich im Kopf. Wollen Sie das selbst mal ausprobieren? Einen Onlinekurs mit Neuro- Rider-Übungen finden Sie hier: marcnoelke.de/ neuro-rider

Fit im Kopf: "Magic Drills" für jeden Reiter
Magic Drill 1: Achten aus dem Handgelenk Mit den Händen begreifen wir wortwörtlich unsere Welt – nur hart in die Zügel greifen, das sollten wir damit tunlichst nicht. Das Feingefühl für die Hände (und damit auch für das, was diese tun) verbessern Sie mit dieser Übung. Streichen Sie zunächst so über Ihre Hände, als würden Sie sie gründlich einseifen; das aktiviert den Bereich sensorisch. Nun zeichnen Sie aus dem Handgelenk eine liegende Acht in die Luft. Zuerst gibt der Daumen die Richtung vor, dann der kleine Finger (so wechseln Sie gleichzeitig die Richtung der Acht). Variieren Sie Richtung, Größe (mal klein, mal groß) und Geschwindigkeit der Acht. Machen Sie die Bewegung so groß wie möglich und strecken Sie die Finger. Im Anschluss wechseln Sie die Hand. Die Übung können Sie auch prima beim Warmführen Ihres Pferds machen.

Magic Drill 2: Sprunggelenk bewegen, Hüfte lockerer bekommen Ziehe ich den Absatz hoch? Um das zu wissen (und gezielt gegenzusteuern), braucht der Reiter ein gutes Gespür. Das schärfen Sie hiermit und verbessern nebenbei die Beweglichkeit Ihrer Hüfte. Stellen Sie sich ohne Schuhe hin. Ein Bein setzen Sie etwas vor das andere, beide Beine sind gestreckt, der Kopf gerade. Nun kippen Sie das Fußgelenk des vorderen Beins nach außen, halten das einige Sekunden und kippen es dann zurück in die Ausgangssituation. Das Becken bleibt stabil. "Konzent- rieren Sie sich darauf, dass die Bewegung nur aus dem Sprunggelenk kommt", sagt Marc Nölke. Wiederholen Sie die Bewegung einige Male, dann Bein wechseln.

Magic Drill 3: Die "innere Landkarte" für die Bewegung der Beine anlegen Um das Bein exakt am Pferd zu positionieren, muss der Reiter wissen, wo es genau ist. "Weil sich die meisten Menschen nicht sehr absichtsvoll bewegen, fehlt das Feingefühl", sagt Marc Nölke. So schärfen Sie’s: Stellen Sie sich ohne Schuhe hin, heben Sie das rechte Bein und lassen es kreisen. Stellen Sie sich vier Felder vor: Eines liegt vor dem linken Bein, eines vor dem Körper/rechten Bein, eines rechts seitlich von Ihnen, das vierte hinter Ihnen. Wechseln Sie von einem Feld zum nächsten, variieren Sie Kreisgröße und Tempo. Konzentrieren Sie sich auf einen exakten Kreis. Bewegen Sie nur das Hüftgelenk, nicht das Becken, und achten Sie auf einen gestreckten Stand. Dann links wiederholen.

Magic Drill 4: Die Augen fixieren, der Kopf bewegt sich Was macht das Pferd unter mir? Diese Infos bekommt das Gehirn unter anderem von den Augen. Wer Augenbewegungen trainiert, dessen Gehirn wird trainiert, bekommt besseren Input – und kann so besser auf die Bewegung des Pferds reagieren. Fixieren Sie mit den Augen einen Punkt, etwa den Daumen am ausgestreckten Arm. Das Kinn zeigt etwas Richtung Brust. Nun bewegen Sie den Kopf für eine Minute nach links und nach rechts, dann nach oben und unten. Die Augen fixieren stets den Dau- men und sehen diesen scharf! Beginnen Sie mit einer Bewegung pro Sekunde und steigern auf zwei pro Sekunde. Ein Taktgeber (Tipp: Handy-App) hilft, den Rhythmus zu halten.

Magic Drill 5: Das Gefühl für die Atmung schärfen Am Ein- und Ausatmen sind viele Muskeln beteiligt. Funktionieren nicht alle optimal, zieht der Reiter etwa die Schultern hoch. Dagegen hilft es, die Atmung bewusst wahrzunehmen. Das aktiviert zudem die Inselrinde im Gehirn, sodass man in jeder Situation – im Sattel und bei Anstrengung – besser atmen kann. Für die Übung benötigen Sie ein längeres Gummiband. Legen Sie dieses über die 9. und 10. Rippe; bei Frauen sitzt es etwas tiefer als der BH. Nun atmen Sie tief ein und wieder aus. Konzentrieren Sie sich darauf, dass Sie die Atmung rundum spüren; versuchen Sie, den Rippenbogen gleichmäßig in alle Richtungen nach außen auszudehnen. Das Gummiband können Sie auch beim Reiten nutzen.

Die Experten:
Marc Nölke ist ehemaliger Skispringer. Nach einem schweren Sturz auf der Schanze widmete er sich der Frage, wie neurologisch bedingte Einschränkungen behoben werden können – und coacht seither Olympiasieger ebenso wie chronisch Kranke. (marcnoelke.de)

Claudia Butry ist Bewegungstrainerin nach Eckhart Meyners und eine der ersten Reit-Ausbilderinnen, die die "Neuro-Rider"-Fortbildung von Marc Nölke besuchen. Für unser Experiment stieg sie selbst in den Sattel. (www.neuesreiten.de)
