Problempferde: Umgang und Lösungswege

Umgang mit schwierigen Pferden
Neustart fürs Problempferd

Zuletzt aktualisiert am 06.05.2024

Ein echtes Problempferd

Es war ein grauer Tag Anfang Oktober 2023, als Tierärztin Kerstin Wichelhaus ein Hilferuf erreichte: Es waren die Besitzer eines sechsjährigen Criollos, die nicht weiter wussten. Trotz naturnaher Aufzucht, guter Haltung im Offenstall, bestem Gewissen in der Vorbereitung auf den Reiter und jahrelanger Pferde-Erfahrung, sie fanden keinen Zugang zu ihm. Er sei extrem misstrauisch, lasse sich nicht gerne einfangen und wenn es ihm zu viel würde, reiße er sich los und flüchte. Ihn anzureiten, sei undenkbar, ein echtes Problempferd eben.

Beginn mit Vet-Check und Vertrauensarbeit

Da Kerstin Wichelhaus nicht nur Tierärztin ist, sondern auch Osteopathin und Trainerin mit Problempferde-Erfahrung, bekommt der Wallach bei ihr eine Chance. Sie soll körperlichen Ursachen auf den Grund gehen und mit dem Wallach einen Trainings-Neustart wagen. Steckt möglicherweise eine Krankheit hinter seinem Verhalten? Wird er je reitbar werden?

Ende Oktober 2023 fährt der Pferdehänger vor und der kleine Problem-Wallach J.C. zieht auf dem Hof der Tierärztin im baden-württembergischen Eppingen ein. Seither sind drei Monate vergangen. Es ist viel passiert, und auch über die Vergangenheit des jungen Problempferds wurden jetzt mehr und mehr Einzelheiten bekannt. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass es doch einen misslungenen Anreit-Versuch gab. Im Schritt schien wohl alles gutgegangen zu sein, im Trab brach er in Panik aus und ging durch, dann bockte er, bis er seinen Reiter verlor.

Inzwischen ist der Problem-Criollo in den Besitz von Kerstin Wichelhaus übergangen. "Er hat wohl laut Erzählungen eine recht gute Aufzucht genossen", sagt Kerstin Wichelhaus. "Aber wir vermuten, dass er nach dieser sorgenfreien Zeit mit wenig Menschenkontakt schnell durchs Fohlen-ABC geschleust wurde, um ihn zu verkaufen. Vom Züchter ging er über einen Zwischenhändler an die Vorbesitzer, bei denen dann die Probleme mit dem Pferd auftraten. "J.C. ist nie aggressiv, weder beißt er noch tritt er, aber er hat einen sehr ausgeprägten Fluchtinstinkt. Er schützt seine Hinterhand, indem er sofort mit den Hinterbeinen ausweicht", erklärt Kerstin Wichelhaus.

Vet-Check vom Kopf bis zur Schweifrübe

Bevor das Training mit dem Problempferd beginnt, sollen körperliche Ursachen oder Probleme bei J.C. ausgeschlossen werden. Der sechsjährige Wallach kam in einem augenscheinlich guten Futter- und Pflegezustand auf dem Hof an. Auf den ersten Blick wirkte er gesund.

Ähnlich einer großen Ankaufsuntersuchung checkte Tierärztin Kerstin Wichelhaus den jungen Wallach komplett durch. Der Zustand von Fell und Haut war gut, ebenso die Augen. "Es kann ja immer möglich sein, dass so extrem schreckhafte Pferde nicht richtig sehen können", sagt die Tierärztin. Doch die Augen waren unauffällig. Weder Herz noch Lunge zeigten ungewöhnliche Geräusche, Körpertemperatur, Atemfrequenz und Puls waren normal. J.C. reagierte nicht auf Beugeproben und lief beim Vortraben unauffällig. Auch sein Blutbild zeigte keinerlei Veränderungen oder gab Hinweise auf entzündliche Prozesse, Stoffwechselprobleme oder Mangelerscheinungen von Nährstoffen im Körper.

CAVALLO Neustart fürs Problempferd Criollo J.C.
Maresa Mader

Auffällig war sein stark ausgeprägter Unterhals, das hervorstehende Brustbein zwischen den Vorderbeinen, der hängende Rumpf, der nach unten sackende Brustkorb, verspannte Schulter- und Brustmuskeln, Löcher am Widerrist und der durchhängende Rücken: J.C. zeigte mehrere Symptome einer Trageschwäche, die bei so jungen und ungerittenen Pferden unüblich ist.

Um Krankheiten wie Kissing Spines (knöcherne Veränderungen der Dornfortsätze) oder ECVM (Equine Complex Vertebral Malformation), eine angeborene Fehlbildung der unteren Halswirbelsäule, sowie sämtliche Arthrosen auszuschließen, röntgte die Tierärztin das junge Problempferd von vorne bis hinten durch – ohne Befund.

Auf ein CT und MRT sowie eine Szintigrafie verzichtete sie und beschloss, der Trageschwäche mit Kraft- und Faszientraining entgegenzuwirken. Vertrauensarbeit soll seine sensible Psyche stärken.

Unbekannte Situationen können Problempferd J.C. triggern

Wie verunsichert J.C. ist, erleben wir, als wir ihn bei Kerstin Wichelhaus besuchen. Allein die Anwesenheit der Fotografin und Autorin bringt den kleinen Kerl so aus der Fassung, dass er sich nicht aufhalftern lassen möchte. J.C. läuft vor Kerstin Wichelhaus davon und wirkt angespannt. Die Tierärztin fühlt sich um Wochen zurückversetzt. "Vier Wochen haben wir geübt, bis wir uns gut nähern und ihn ohne Stress aufhalftern konnten." Also alles zurück auf Anfang: Sie nähert sich nur so weit, wie es Problempferd J.C. akzeptiert, ohne wegzulaufen. Dann entfernt sie sich wieder, um seine Neugier zu wecken. Schließlich spitzt er die Ohren und lässt zu, dass sie näher kommt. "Mir ist es wichtig, dass die Pferde freiwillig die Nase ins Halfter stecken und so einen guten Einstieg für das Training haben", sagt die Expertin.

Weil das Problem mit dem Einfangen schon bei den Vorbesitzern bekannt war, entschied die Tierärztin, den Criollo in einen kleineren Offenstall mit einem Pferdekumpel zu stellen, statt in ihre große Herde im Paddocktrail. "Der kleinere Raum macht es einfacher, sich ihm zu nähern", sagt sie. Die ersten vier Wochen dienten rein der Vertrauensarbeit. J.C. sollte in Ruhe ankommen, sich an die Abläufe auf dem Hof gewöhnen. Da Kerstin Wichelhaus körperliche Ursachen für sein Verhalten vermutete, unterzog sie den Wallach einem kompletten Gesundheit-Check-Up und röntgte ihn vom Kopf bis zum Schweif durch. Bis auf eine komplett verspannte Tragemuskultur konnte sie jedoch nichts finden.

Verursachte psychischer Stress die Trageschwäche?

"Es ist ungewöhnlich, dass ein junges und ungerittenes Pferd eine so verspannte Muskulatur hat", sagt sie. Sie vermutet, dass psychischer Stress dahintersteckt – obwohl der Problem-Wallach die meiste Zeit in einer Offenstallhaltung lebte und wenig gearbeitet wurde. Dieser einzige kurze Reitversuch erkläre seine massiven Verspannungen nicht. "Es kann auch Stress im Offenstall geben, zum Beispiel wenn es zu wenig Platz, zu viele Engstellen oder zu wenig Futterstellen gibt." Auch Schlafmangel lässt Pferde im Offenstall krank werden. "Gerade in kleineren Gruppen sollte die Dynamik zwischen den Pferden passen, damit keiner unglücklich ist", betont Kerstin Wichelhaus.

Als J.C. schließlich das Halfter trägt, wirkt er wieder entspannt und stapft in Richtung "Turnhalle". So nennt Kerstin Wichelhaus die ehemalige überdachte Führanlage des Hofs, in der mehrere Wippen und Trainingsgeräte für Pferd und Reiter stehen. Hier gehen Pferde wie J.C. ins Fitnessstudio. Alle Geräte fördern die Rumpf- und tieferliegenden Stabilisationsmuskeln und wirken dem trageerschöpften Rücken entgegen. "Hier lernt er zudem, dass er Probleme selbst lösen kann, indem ich ihn viel ausprobieren lasse", erklärt die Tierärztin. J.C. schnuppert am Drehteller und testet vorsichtig mit einem Vorderbein den Untergrund, bevor er nacheinander die beiden Vorderbeine aufsetzt und hin und her wippt.

Währenddessen löst Kerstin Wichelhaus immer wieder die Faszien am Hals oder der Brust mit der Hand oder einem kleinen Faszienrad. Sie arbeitet sehr ruhig, aber bestimmt mit dem Problempferd. "Oft werden solche Pferde mit extremer Vorsicht behandelt. Man schleicht um sie herum, um sie bloß nicht zu erschrecken", erklärt die Trainerin. "Ich möchte aber, dass meine Bewegungen selbstverständlich für ihn werden. Er muss Stück für Stück lernen, gewissen Druck auszuhalten, ohne Angst haben zu müssen." In unbekannten Situationen ist J.C. noch extrem gestresst. Kerstin Wichelhaus möchte erstmals sein Stockmaß messen. Sie bindet den Problem-Criollo dazu nicht fest an, sondern lässt einen langen Strick lose durch einen Anbindering laufen. Als die Expertin sich mit dem Zollstock nähert, reißt J.C. panisch den Kopf hoch und weicht zurück. Schrecksituationen wie diese, die so typisch für den kleinen Criollo sind, kann Kerstin Wichelhaus jetzt schon viel schneller auflösen als vor ein paar Wochen.

Schrittweise gewöhnt sich J.C. an neue Aufgaben

Sie nähert sich mit dem gruseligen Gegenstand, bis J. C. die Berührung damit akzeptiert. Das Prinzip: Annäherung und Rückzug. Immer, wenn J.C. stillsteht, nimmt sie den Zollstock sofort wieder weg. "So lernt J.C., dass es für ihn angenehm wird, wenn er ruhig stehenbleibt und nicht, wenn er zappelt. Nach ein paar Minuten lässt sich der Wallach messen. 1,39 Meter ist der sechsjährige J.C. hoch. "Wenn er im Rumpf noch aufbaut, wird er vielleicht mal 1,40 Meter", vermutet Kerstin Wichelhaus.

Mit dem Training auf dem Reitplatz startete sie etwa vier Wochen nach der Ankunft des Problempferds. Der Aufbau der korrekten Reitpferdemuskulatur beim Krafttraining in der Turnhalle und die Lockerung der verspannten Bereiche durch manuelle Therapien halfen J.C. enorm, viel cooler zu werden. Bei der Bodenarbeit am Kappzaum setzte die Trainerin auf kurze, ruhige Einheiten. "Mit jeder positiv beendeten Stunde machte er Fortschritte und vertraute mir mehr", sagt die Trainerin. J.C. lernte, dass er vor der Gerte nicht flüchten muss und versteht sie jetzt als treibende Hilfe. Er nimmt den Menschen als Partner wahr.

Auf dem Reitplatz zeigt die Tierärztin, was sie am Boden mit dem Criollo in den letzten beiden Monaten erarbeitet hat. Anfangs riss J.C. sich ohne ersichtlichen Grund in Panik von der Longe los, heute trabt er entspannt im Kreis, schnaubt ab und lässt schön den Hals fallen. Selbst im Galopp bleibt er ruhig. Besonders motiviert ist er in der Freiarbeit, wo er auf dem 20 x 40 Meter großen Reitplatz auf Schritt und Tritt folgt. Ein paar Mal war er als Handpferd mit im Gelände und akzeptiert den Menschen in der Handarbeit auf Höhe des Sattels. Er hat die letzten drei Monate so große Fortschritte gemacht, dass er jetzt schrittweise auf seinen Neustart unter dem Sattel vorbereitet wird. Ein Pad mit Gurt trägt er entspannt, bald soll das Problempferd ans Reitergewicht gewöhnt werden.

1. Übung – Drehteller:

CAVALLO Neustart fürs Problempferd Criollo J.C.
Maresa Mader

Dieses Hindernis bietet, anders als Wippen, eine dreidimensionale Bewegung. Wippen bewegen sich nach vorne und hinten, der Drehteller zusätzlich zur Seite. J.C. muss im Training immer wieder Bewegungen des Tellers ausgleichen, sodass seine Tiefenmuskulatur angesprochen wird. Das Pferd steht anfangs entweder mit den Vorderbeinen auf dem Drehteller und tritt dann mit den Hinterbeinen seitwärts; oder es steht mit den Hinterbeinen auf dem Drehteller und tritt mit den Vorderbeinen seitwärts. J.C. setzt hier die Vorderbeine auf. Währenddessen streicht Kerstin Wichelhaus ihm am Brustbein zwischen den Vorderbeinen entlang, um ihn an seine Rumpfmuskeln zu erinnern, statt den Unterhals zu nutzen. Pferde, die gut im Training stehen, können auch mit allen vier Hufen auf dem Drehteller stehen.

2. Übung – Wippe:

CAVALLO Neustart fürs Problempferd Criollo J.C.
Maresa Mader

Beim Training auf der Ganzkörperwippe kann sich das Pferd zweidimensional bewegen. J.C. steht hier mit den Vorderbeinen auf der Wippe und schwingt vor und zurück, indem er sein Gewicht verlagert. Durch diese kleine Bewegung lockert sich die Aufhängung im Schulterblatt und am Rumpf. Zudem trainiert es die Brustmuskeln, weil sie an- und abspannen. Steht das Pferd mit der Hinterhand auf der Wippe, lockert es sein Becken und kräftigt die Lendenmuskeln. Das Pferd sollte auf der Wippe viel experimentieren dürfen. Vier Hufe für Profis: Verlagert das Pferd sein Gewicht nach vorne und hinten und schwingt die Wippe, fördert dies die Hankenbeugung.

3. Übung – Longieren:

CAVALLO Neustart fürs Problempferd Criollo J.C.
Maresa Mader

Auf Kreislinien lernt das Pferd, sich zu biegen und baut Muskulatur auf. Ein Kappzaum hilft, das Pferd im Genick zu stellen. Anfangs verlangt Kerstin Wichelhaus wenige Kreise, bevor sie Problempferd J.C. wieder geradeaus laufen und entspannen lässt. Sobald der Wallach den Hals fallen lässt, lobt sie ihn mit der Stimme.

4. Übung – Handarbeit:

CAVALLO Neustart fürs Problempferd Criollo J.C.
Maresa Mader

Da J.C. das Gebiss noch nicht kennt, schnallt Kerstin Wichelhaus die Zügel in die seitlichen Kappzaumringe und geht selbst in Höhe der Sattellage. Sie achtet darauf, dass er im Halten leichtem Druck an der Nase nachgibt. Über die Stimme lässt sie ihn antreten und läuft im Gleichschritt neben ihm her. So gewöhnt sich das Problempferd an die Nähe des Menschen.

Der junge Wallach sucht seinen eigenen Menschen

Da Kerstin Wichelhaus bereits zwei eigene Pferde besitzt und außerdem selbst zu groß und zu schwer ist, sucht J.C. auf lange Sicht seinen eigenen Menschen. Dieser sollte nicht mehr als 60 Kilo wiegen und Lust haben, sich auf den sensiblen Wallach einzulassen und ihm ein liebevolles und fachkundiges Zuhause zu bieten. "Wenn das Training so positiv weitergeht, bin ich mir sicher, dass er ein toller Partner werden kann”, sagt sie. Kerstin Wichelhaus bietet wirklich interessierten und erfahrenen Menschen an, einige Zeit mit ihr zusammen zu trainieren, Einblicke in spannende Reha- und Ausbildungstechniken zu gewinnen und den Wallach richtig kennenzulernen. Wer ernsthaftes Interesse hat, darf sich unter kerstin.wichelhaus@t-online.de melden.

Unsere Expertin:

CAVALLO Tierärztin und Osteopathin Kerstin Wichelhaus
Maresa Mader