Die Basis: Treibende Hilfen
"Die Anlehnung muss das Ergebnis der richtig entwickelten Schubkraft durch die treibenden Hilfen sein. Sie darf niemals durch Rückwärtswirken mit den Zügeln gewonnen werden." (H.Dv.12)
Eine konstante, aber leichte Anlehnung ist die Voraussetzung dafür, dass Ihr Pferd motiviert geht und auf feinste Signale reagiert. Lassen Sie sich deshalb nie dazu verleiten, rückwärts einzuwirken, also an den Zügeln zu ziehen, wenn Ihr Pferd im Genick nicht nachgibt.
"Eine korrekte Anlehnung entsteht nur, wenn der Reiter die Hinterhand ans Gebiss herantreibt," sagt Gerd Heuschmann. "Genau das wird in der H.Dv.12 mehrfach betont", ergänzt der Tierarzt und gelernte Bereiter, der sich seit Jahren intensiv mit der Biomechanik von Pferden beschäftigt und sich als Ausbilder an dem alten Militär-Reitregelwerk H.Dv.12 orientiert. Vor Kurzem erschien sein Buch "Die kommentierte H.Dv.12", entstanden in Zusammenarbeit mit dem verstorbenen ehemaligen Kavallerie-Oberst Kurd Albrecht von Ziegner.
So reiten Sie mit weicher Hand
"Die Kunst einer guten Zügelführung beruht auf der dauernden Erhaltung der Verbindung zwischen Reiterhand und Pferdemaul, die man Anlehnung nennt." (H.Dv.12)
Die Grundlage für eine weiche Hand ist ein zügelunabhängiger Sitz. Achten Sie darauf, entspannt im Sattel zu sitzen. Ihr Handgelenk ist locker und Ihr Ellenbogen beweglich wie ein Scharnier. So können Sie den Bewegungen Ihres Pferds mit der Hand weich folgen.
Wichtig: "Sie wollen keine Anlehnung herstellen, sondern Sie möchten die Anlehnung gewähren", erklärt Heuschmann. Wenn Sie die Zügel aufnehmen, dürfen Sie Ihr Pferd nicht überfallen. "Stellen Sie sich vor, Sie kuscheln sich langsam ans Maul heran", rät Heuschmann seinen Schülern.
Viele Reiter setzen auf gebogenen Linien ihre innere Hand zu stark ein, weil sie ihr Pferd stellen möchten. Das ist falsch, denn dafür ist vorrangig der innere Schenkel zuständig. Falls doch mal eine stellende Hilfe mit dem inneren Zügel notwendig ist, rät Heuschmann, die innere Hand lieber kurz ein wenig anzuheben. Das bringt zwei Vorteile: Erstens kommt der Reiter nicht ins Ziehen, weil er die Hand nach oben statt rückwärts bewegt. Zweitens wird beim Pferd ein Kaureflex ausgelöst, der dazu führt, dass es im Kiefer entspannt und seinen Hals fallen lässt.
Ihr Pferd bestimmt, wie hoch Sie Ihre Hände tragen. Die Linie zwischen Ellenbogen, Hand und Gebissring sollte stets ungebrochen sein, damit Sie Ihr Pferd nicht blockieren und eine konstante, leichte Zügelverbindung aufrechterhalten können. Trägt das Tier seinen Kopf höher, dürfen Sie auch die Hände etwas höher tragen. Lässt es den Hals fallen, tragen Sie die Hände tiefer.
Pferd rollt sich ein?
"Häufiges Reitenlassen mit einer Hand, Vorgehen mit der Zügelhand unter Beibehaltung der Anlehnung bannt am besten die Gefahr, dass die Pferde zu kurz im Halse werden." (H.Dv.12)
"Pferde, die mit kurzem Hals gehen und sich dem Zügelkontakt entziehen, indem sie sich einrollen, haben kein Vertrauen in die Reiterhand und sind total verspannt", erklärt Heuschmann. "Diese Tiere müssen lernen, mit dem Rücken zu schwingen und ihren Hals fallenzulassen." Wichtig ist, dass der Reiter die Bewegung nach vorne hinauslässt und mit treibenden Hilfen unterstützt. Am Anfang ist dabei der Zügelkontakt noch nicht so wichtig. "Trauen Sie sich in der Lösungsphase, die Zügel lang zu lassen und in frischem Tempo zu galoppieren", ermutigt Heuschmann seine Schüler. "Erst wenn die Nase nach vorne kommt und der Hals lang bleibt, dürfen Sie die Zügel vorsichtig wieder aufnehmen."
Regelmäßige Tempoübergänge oder ein kurzes Zulegen in der Arbeitsphase helfen dem Pferd, die obere und untere Halsmuskulatur zu entspannen.
Zwischendurch können Sie auch mal einhändig reiten. Wenn Sie die Zügel in eine Hand nehmen, haben Sie eine gleichmäßigere Verbindung. Außerdem kann das Pferd so seinen Hals zwischen den beiden Zügeln leichter stabilisieren. "Das hat eine direkte Wirkung auf die Hinterhand, die dann gerade nach vorne durchschwingen kann", erläutert Gerd Heuschmann.
Pferd hebt sich heraus?
"Steift sich ein Pferd in Hals und Genick gegen die Hand des Reiters, so muss es durch vorwärts treibende Hilfen zum Abstoßen gebracht werden." (H.Dv.12)
Trägt das Pferd kurzzeitig den Kopf höher, sodass es über dem Zügel geht, ist das nicht schlimm. Heuschmanns Tipp: "Einfach weiterreiten und treiben". Doch viele Reiter schämen sich, wenn Ihr Pferd nicht am Zügel geht und wollen den Kopf des Tiers schnell wieder unten haben. Häufig zu sehen: Reiter, die an den Zügeln ziehen, riegeln oder Hände herunterdrücken.
In der H.Dv.12. wird dieses Verhalten energisch kritisiert. Sie empfiehlt bei Anlehnungsproblemen
grundsätzlich die Vorwärtsbewegung als "den besten Verbündeten des Reiters". Dabei ist es erlaubt, dass der Reiter kurz die Hände stehen lässt, also eine durchhaltende Zügelhilfe gibt – aber unbedingt verbunden mit ausreichenden vortreibenden Hilfen durch Schenkel und Gesäß und einer unmittelbar darauf folgenden nachgebenden Hand. Reagiert das Pferd nicht, wird die Hilfe solange wiederholt, bis das Tier im Genick nachgibt.
"Die Lösung für alle Reitprobleme ist immer der Schenkel und nie die Hand", sagt Gerd Heuschmann.
Pferd geht nicht konstant am Zügel?
"Mit zunehmender Geraderichtung wird auch die Durchlässigkeit des Pferdes verbessert. Der Schub der Hinterhand kann nunmehr ungehindert bis in das Maul hineinwirken und veranlasst das Pferd, dem Drucke des Mundstückes nachzugeben, sich im Genick zu biegen und am Gebiss zu kauen." H.Dv.12)
Ist die Anlehnung nicht stabil, weil das Pferd mal hinter und mal über dem Zügel geht, muss der Reiter besonders stark auf eine konstante, weiche Zügelverbindung achten. "Das Pferd muss Ruhe finden in der Hand", sagt Heuschmann. Sein Rat: Die Hände ruhig stehen lassen und den Zügelkontakt nur über das Schließen und Öffnen der Fäuste beständig halten. "Reiten Sie Ihr Pferd mit gleichmäßigem, weichem Schenkeldruck im Takt nach vorne Richtung Gebiss", rät der Ausbilder. Das Tempo wählen Sie am besten so, dass Sie völlig locker im Sattel sitzen können – also eher ruhiger. Dann können Sie auch über Ihren Sitz mehr Ruhe vermitteln.
Die Bewegung der Hinterbeine muss über den Rücken gerade nach vorne in die Reiterhand hineinlaufen. "Nur so entsteht Anlehnung", so Heuschmann. "Wir brauchen ein geradegerichtetes Pferd, das gleichmäßig zu beiden Zügeln hingeht." Fällt dies dem Pferd noch schwer, dürfen Sie vorübergehend die Hände etwas breiter halten. So unterstützen Sie es, mit den Hinterbeinen gerade nach vorne zu treten und nicht zur Seite auszuweichen.
Übrigens: Gerade wird ein Pferd, wenn es im Gleichgewicht geht. Die meisten Pferde sind ein wenig schief und können sich auf einer Seite nicht so gut biegen und stellen wie auf der anderen. Was Sie für die Balance Ihres Vierbeiners tun können, erfahren Sie im nächsten Teil unserer Serie (Ausgabe 7/2017).
Überstreichen
"Um zu prüfen, ob das Pferd sich in freieren Gängen selbst trägt, sowie als beruhigende Hilfe wendet man das Überstreichen an." (H.Dv.12)
So geht’s: Gehen Sie mit der Hand langsam Richtung Mähnenkamm vor und wieder zurück, ohne dabei die treibenden Hilfen zu vergessen. Der Zügelkontakt geht kurz verloren. Verändert Ihr Pferd seine Haltung nicht, ist das ein gutes Zeichen: Sie können zügelunabhängig reiten und haben Ihr Pferd "am Sitz". Dies zeigt, dass Anlehnung nicht in erster Linie mit den Zügeln zu tun hat, sondern mit einem gut sitzenden Reiter.
Dehnen und Rahmen erweitern
"Ein guter Prüfstein für die richtige Arbeit sind nachgebende Zügelhilfen, wobei der Reiter sich die Zügel aus der Hand kauen lässt, ohne die treibenden Hilfen aufzugeben." (H.Dv.12)
Wenn Ihr Pferd sich bereitwillig dehnt, ist das ebenfalls ein Zeichen für eine gute Anlehnung. Außerdem tut es ihm gut: "Wer ständig in der gleichen Haltung laufen muss, verspannt sich irgendwann", meint Gerd Heuschmann. Er empfiehlt, das Pferd regelmäßig in die Dehnungshaltung zu entlassen. "So bleibt Ihr Pferd unter dem Sattel motiviert und geschmeidig".
Möchten Sie Ihr Pferd auffordern, seinen Hals zu strecken, gehen Sie mit Ihren Händen vor, sitzen Sie leicht entlastend und treiben Sie mit den Schenkeln in Ihre weiche Hand hinein. Wichtig: Entwickeln Sie die Dehnung langsam, sodass Sie den Kontakt zum Pferdemaul nicht verlieren.
Möchte das Pferd sich nicht dehnen oder zieht es Ihnen die Zügel ruckartig aus der Hand, ist es im Rücken noch zu fest. Denn dieses Verhalten beweist laut H.Dv.12 "noch nicht gelöste Hals- und Rückenmuskeln". Den Grund kennt die Reitvorschrift auch: "Fast immer hat der Reiter mit zu viel Handeinwirkung und zu wenig treibenden Hilfen gearbeitet." Sie müssen also noch stärker darauf achten, genügend zu treiben und mit der Hand weich zu bleiben.
Versuchen Sie auch, beim Reiten immer mal wieder den Rahmen zu erweitern. Heißt: Die Pferdenase ein wenig vorlassen, indem Sie aus dem Sitz heraus mit den Händen vorgehen. Möchten Sie den Rahmen wieder verkürzen, sitzen Sie etwas schwerer ein, treiben Sie mit dem Schenkel, damit Ihr Pferd nicht durchpariert, und nehmen
Sie Ihre Hände etwas zurück. Bleibt dabei stets eine leichte Zügelverbindung erhalten, haben Sie alles richtig gemacht.