Wie gelingt es, dass ein Reitpferd gesund bleibt?
Wohl die wichtigste Frage im Pferdetraining überhaupt. Die Antwort kannten bereits die alten Reitmeister, die Theorie dazu haben sie geschrieben, und wir haben sie gelesen und versuchen sie, ein Reiterleben lang umzusetzen.
Deshalb reiten wir so, dass unsere Pferde kräftig unter den Schwerpunkt treten, über den Rücken schwingen und diesen bloß nicht hängen lassen. Im Idealfall biomechanisch korrekt. Warum sollte das ein alter Hut sein?

Pferde sollen wieder lernen, wie sie sich gesund und funktional bewegen können. Das Horse Tensegrity Training soll Pferden ein neues Bewegungsgefühl vermitteln. Der Schwerpunkt liegt auf mobilisierenden und stabilisierenden Übungen.
Das neue Schlagwort heißt Biotensegrität! Wer neugierig die Entwicklungen in der Pferdeszene verfolgt, kommt am "tensegralen Training” kaum vorbei. Auf den folgenden Seiten bringen wir Licht in die Theorie, stellen entsprechende Trainingsansätze vor und berichten über die tensegralen Erfahrungen von Profi-Trainern.
Vorbild für das Modell ist die Architektur
Biotensegrität (englisch: Biotensegrity) ist ein Erklärungsmodell für die Funktion von lebenden Körpern in Bewegung – ziemlich komplex, aber eigentlich einfach. Die Biotensegritäts-Theorie ist ein Konzept, das aus der Architektur in die Biologie übertragen wurde. Ursprünglich von dem Architekten Buckminster Fuller entwickelt und später von dem orthopädischen Chirurgen Dr. Stephen Levin in die Biomechanik eingeführt, bietet das Modell eine neue Perspektive auf die Struktur und Funktion von Körpern. Diese Theorie erklärt die Mechanik von Lebewesen, indem sie zeigt, wie Kräfte innerhalb biologischer Strukturen verteilt und aufrechterhalten werden.

Das Modell besteht aus stabilen und elastischen Elementen. Die stabilen Elemente berühren sich nicht. Sie sind nur über die elastischen Elemente verbunden. Das Tensegrity-Modell stammt aus der Architektur.
Um die Biotensegrität zu verstehen, ist es hilfreich, zunächst das Grundkonzept der Tensegrität (ein Kofferwort aus "Tension” und "Integrity”) zu erläutern. Tensegrity beschreibt eine Struktur, die durch ein ausgewogenes Zusammenspiel von Zug- und Druckkräften stabil gehalten wird. In einer tensegralen Struktur, wie sie etwa bei Kunstwerken oder Brücken vorkommt, sind die Elemente, die unter Druck stehen (zum Beispiel Stäbe), nicht direkt miteinander verbunden, sondern schweben innerhalb eines Netzes von Elementen, die unter Zugspannung stehen (zum Beispiel Seile). Diese Verteilung der Kräfte führt zu einer äußerst stabilen und zugleich flexiblen Struktur.
Der Körper als dynamisches Netzwerk
Biotensegrität überträgt dieses mechanische Modell auf biologische Systeme. Im Gegensatz zu traditionellen mechanischen Modellen, die den Körper wie eine Ansammlung starrer Hebel und Gelenke betrachten, sieht die Biotensegrität den Körper als ein dynamisches Netzwerk von Spannungs- und Druckelementen. Diese Elemente arbeiten zusammen, um Stabilität und Beweglichkeit zu gewährleisten, ohne dass die einzelnen Teile des Systems starr miteinander verbunden sind.
In einem biotensegralen Modell des Körpers übernehmen Knochen die Rolle der druckbelasteten Stäbe, während Muskeln, Faszien und Bindegewebe als spannungstragende Komponenten funktionieren. Diese Netzwerke arbeiten zusammen und bewahren so die strukturelle Integrität des Körpers. Zugleich ermöglichen sie dem Körper, seine Bewegungen an äußere Kräfte anzupassen.
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Die Biotensegritäts-Theorie stellt viele traditionelle Annahmen der Biomechanik in Frage und bietet eine Reihe von Vorteilen für das Verständnis der Körpermechanik. Eine der wichtigsten Ideen: Der menschliche Körper und andere biologische Systeme werden nicht als starre, mechanische Gebilde gesehen, sondern als dynamische Strukturen, die ständig auf externe und interne Kräfte reagieren.

Das Pferd als biotensegraler Körper ist kein starres System. Ein inneres Netzwerk von Spannungs- und Druckelementen macht es stabil und vielseitig belastbar.
Durch das Konzept der Biotensegrität wird klar, wie lebende Organismen in der Lage sind, sich an unterschiedliche Belastungen anzupassen. Zum Beispiel kann der menschliche Körper auf eine Vielzahl von äußeren Kräften reagieren, ohne dass es zu strukturellen Schäden kommt. Die biotensegrale Struktur ermöglicht, dass Spannungen und Druck gleichmäßig über das gesamte System verteilt werden, anstatt an einzelnen Punkten konzentriert zu sein. Weil die Kräfte gleichmäßig verteilt sind, macht dies den Körper anpassungsfähig und belastbar. Ein biotensegral funktionierender Körper ist deshalb weniger anfällig für Verletzungen und Überlastungen.
Form und Funktion sind untrennbar verwoben
Sie kennen sicherlich das Prinzip: "Form follows Function” (Form folgt Funktion). Dieser Grundsatz stammt usprünglich aus der Architektur. Wir kennen ihn aus der Pferdeausbildung. Er bedeutet, dass ein Pferd nicht in eine vorgegebene Form gebracht werden soll, sondern die Form, sprich, die Haltung des Pferds, sich aus der Funktion ergibt. Platt gesagt: Die Nase kommt nicht durch die Reiterhand herunter, sondern dann, wenn das Pferd gelernt hat, sich unter dem Reiter effizient und verschleißfrei zu bewegen.

Ein Element aus dem Horse Tensegrity Training: Mit inneren Hilfen das Biegen anfragen, außen komplett nachgeben.
Auch die Biotensegrität geht davon aus, dass Form und Funktion sich gegenseitig beeinflussen. Struktur und Funktion sind untrennbar miteinander verknüpft. Die Form eines Körpers wird durch die Kräfte bestimmt, die darauf wirken, und diese Kräfte wiederum beeinflussen die Funktion. Diese Perspektive zeigt, dass strukturelle Veränderungen die Funktion beeinträchtigen können und umgekehrt.
Spannende Perspektiven auf den Körper von Lebewesen
Die Biotensegritäts-Theorie hat in den letzten Jahren immer mehr Anerkennung in der Humanmedizin und therapeutischen Praxis gefunden. So wird das Konzept genutzt, um Bewegungsmuster zu analysieren und individuelle therapeutische Maßnahmen zu entwickeln. Es gibt auch kritische Stimmen: Einige Forscher argumentieren, dass die Theorie zu stark vereinfacht und die Komplexität biologischer Systeme nicht vollständig erfasst. Andere weisen darauf hin, dass noch weitere Forschung erforderlich ist, um die Theorie umfassend zu validieren.
Nichtsdestotrotz ermöglicht der Ansatz der Biotensigrität neue und spannende Perspektiven auf den Körper von Lebewesen. Was Biotensigrität für die Pferdeausbildung bedeuten könnte, hat Maren Diehl in ihrem Buch "Jenseits der Biomechanik – Biotensegrity” beschrieben.
Was könnte Biotensegrität fürs Pferdetraining bedeuten?
Maren Diehl wendet das Modell auf den Pferdekörper an und sorgt für neue Denkanstöße. "Die Annahme, dass ein lebender Körper nach Hebelgesetzen funktioniert, ist als Prämisse für Trainings- und Ausbildungssysteme nicht mehr vertretbar”, schreibt Maren Diehl in ihrem Buch "Jenseits der Biomechanik – Biotensegrity”. "Die Anatomie bleibt gleich, aber Biotensegrity ersetzt die Biomechanik als Erklärungsmodell. Dies ist die eigentliche Veränderung.” Maren Diehl wirft mit ihren Überlegungen, wie Biotensegrittät auf den Pferdekörper angewandt werden könnte, so manches althergebrachte Wissen über den Haufen und kritisiert das herkömmliche Bewegungsmodell der Biomechanik: "Ein mit Hebeln kontrolliertes Pferd ist zwar halbwegs unter Kontrolle, aber im eigentlichen Sinne kein Pferd mehr.”

Ein gesundes Pferd kann alle Bewegungen mühelos meistern. Die inneren tensegralen Strukturen ermöglichen seinem Körper, sich in der Bewegung situationsgerecht zu organisieren und machen ihn dadurch sehr flexibel und belastbar.
Abwechslung lässt wachsen, Begrenzung verkümmern
Für Maren Diehl ist der Faszienkörper des Pferds das Netz der Zugspannung innerhalb des tensegralen Systems. Zu diesem myofaszialen Gewebe gehört das gesamte Bindegewebe, also Sehnen, Bänder und Muskulatur. Diehl beschreibt den Faszienkörper als größtes Organ im Körper, das für Bewegungen, Körperwahrnehmung, Orientierung im Raum, körperliches Befinden und physische Interaktionen zuständig ist. Ein Organ, das Abwechslung braucht, um nicht zu verkümmern: Es wächst an vielfältigen Bewegungsanreizen.

Bewegungsanreize halten den Pferdekörper leistungsfähig und gesund.
Was steckt hinter "Horse Tensegrity Training”?
Ein Trainer-Team entwickelt eine Methode, die Pferden helfen soll, sich gesund zu bewegen.
Es muss doch irgendeinen Fehler im System geben, dachte Veronika von Rohrscheidt, bevor sie begann, Tiermedizin zu studieren. Die heutige Fachtierärztin für Pferde fragte sich schon vor vielen Jahren, warum so viele Pferde "kaputtgehen”. Ihr Studium gab ihr keine Antwort: "Bei vielen Krankheitsbildern, wie etwa Lahmheiten, kümmern wir uns oft nur um die Symptome.” Die eigentlichen Ursachen beiben deshalb mitunter unbehandelt und führen erneut zu Problemen.

Horse Tensegrity Training: Mit leichtem Druck fragt die führende Person an, ob das Pferd sich dehnen kann.

Gleichzeitig wird das Pferd in der Bewegung vorsichtig gelöst.
Durch ihre eigene Krankheitsgeschichte lernte sie die Faszientherapie kennen und schätzen. So begann sie, sich mit myofaszialen Dysfunktionen zu beschäftigen und entwickelte Übungen und Trainingsideen für ihr Pferd. Ihre Stute Winergy, die heute oft in Trainingsvideos zu sehen ist, gehört zu den hypermobilen "Weichtieren”, so von Rohrscheidt. Sie hatte große körperliche Probleme und tat sich trotz ihres Bewegungspotenzials extrem schwer.

Zentral: der angehobene, gekräftigte Brustkorb.
Sie betont: "Die klassische Reitlehre wird diesem Pferdetyp nicht immer gerecht, da sie schneller in eine myofasziale Dysfunktion geraten, als die stabileren Pferde von früher! Bevor wir diese Tiere gesunderhaltend reiten können, müssen wir sie erst stabilisieren.” Ihr Prinzip: Muskeln im Pferdekörper, die eine andere Aufgabe leisten, als die, für die sie gedacht sind, wieder dazu zu befähigen, ihren eigentlichen Job auszuüben. An diesem Punkt sieht von Rohrscheidt die Biotensegrität: Nur wenn Stabilisationsmuskeln stabilisieren, können Bewegermuskeln bewegen, da sie sonst zum Stabilisieren herangezogen werden und dadurch verspannen. Das wiederum verhindert, dass Stabilisationsmuskeln in Fuktion kommen.
Mit vier gleichgesinnten Pferdetrainerinnen und -therapeutinnen wurde ein tensegrales Trainingskonzept für Pferde entwickelt. Das Ziel: Pferde aus ihren Kompensationsmustern herausholen und ihnen zu vermitteln, wie sie sich gesund und funktional bewegen können. Seit 2022 arbeiten alle fünf gemeinsam als Ausbilder-Team, um ihr Horse Tensegrity Training an interessierte Fachleute und Pferdebesitzer weiterzugeben.

Das Horse Tensegrity Trainer-Team.
Die Expertinnen
Veronika von Rohrscheidt ist Pferdetierärztin, spezialisiert auf biotensegrales Training und Therapie myofaszialer Dysfunktionen. horse-tensegrity-training.com
Birte Ewaldsen (geb. Heinsen) ist examinierte Humanphysiotherapeutin, DIPO-Pferdeosteopathin sowie Mitbegründerin und Dozentin der Horse Tensegrity GmbH.
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