Skala oder Ausbildungsgrundsätze – warum die sechs Ziele keine Stufen sind
In den Richtlinien für Reiten und Fahren Band 1 der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) veranschaulicht eine Pyramide das "Ausbildungssystem des Pferdes" bzw. die "Skala der Ausbildung". Ist die Skala der Ausbildung also als Stufenleiter zu verstehen, deren Sprossen man eine nach der anderen erklimmen muss? Nein – und das steht auch in den Richtlinien. Dort heißt es, die einzelnen Ausbildungsschritte würden sich teilweise parallel entwickeln.
Den Begriff "Ausbildungsskala" findet Michael Putz deshalb irreführend: "Ich spreche lieber von Ausbildungsgrundsätzen, denn an den ersten drei, besser an den ersten fünf Punkten muss der Reiter von Anfang an parallel arbeiten." Einzig die Versammlung bildet für Putz sozusagen das Sahnehäubchen auf dem Rest der Torte: "Die ersten fünf Ausbildungsziele – Takt, Losgelassenheit, Anlehnung, Schwung und Geraderichtung – müssen bis zu einemgewissen Grad erreicht sein, bevor die versammelnde Arbeit anfängt."
Bianca Rieskamp, Pferdewirtin mit Schwerpunkt Reiten und Ausbilderin, sieht das ähnlich: "Es ist richtig, dass alles zusammenhängt und sich parallel entwickelt. Allerdings sind für mich die ersten drei Punkte, also Takt, Losgelassenheit und Anlehnung, die Basis. Diese Punkte darf man keinesfalls überspringen und denken, dass sich Defizite an diesen Stellen später schon noch geben würden."
Dressurausbilderin Claudia Butry betont, dass es zwischen allen Punkten der Skala Schnittmengen gibt. Wichtig sei auch, das Pferd in der Ausbildung individuell zu betrachten. "Bei vielen Pferden entwickelt sich zum Beispiel der Takt vor der Losgelassenheit, wie es ja auch die Reihenfolge der Pyramide nahelegt", so Butry. "Bei Gangpferden wie Isländern im Trab oder Galopp oder auch bei manchen anderen Pferden kann es aber sein, dass der Rücken so verspannt ist, dass ich als Ausbilderin erst die Losgelassenheit fokussieren muss. Letztlich hängt beides zusammen."
Wie ist die "Skala der Ausbildung" entstanden?
Michael Putz erläutert die geschichtliche Entwicklung: Die heutigen Richtlinien für Reiten und Fahren basieren auf der Reitvorschrift, die für alle Angehörigen der Deutschen Kavallerie gültig war. Sie wurde zum ersten Mal im Jahr 1912 herausgegeben, heute nennt man sie meist H.Dv.12. In dieser ersten Ausgabe stand noch die Ausbildung des Kavalleriepferds für den militärischen Einsatz im Mittelpunkt.
Gründlich überarbeitet wurde die Verordnung ab 1934 unter maßgeblicher Mitarbeit u. a. von Oberst Hans von Heydebreck und Oberst Felix Bürkner. Sie erschien als Neuauflage 1937. Spätestens in dieser Ausgabe kann man unter der Bezeichnung "Ziele und Grundsätze der Dressur" schon alle wesentlichen Inhalte finden, die unsere heutigen Richtlinien bestimmen.
Eine Vorläuferform der heutigen Skala der Ausbildung schrieb Siegfried von Haugk in seinem Werk "Die Ausbildung der Rekruten im Reiten" (erschienen 1940) nieder. Nach dem Krieg definierte von Haugk dann in "Das Reiter-ABC" (1948) die Reihenfolge der "Ziele der Dressur" entsprechend der heutigen Ausbildungsskala.
1954 erschienen schließlich zum ersten Mal die "Richtlinien für Reiten und Fahren". Verantwortlich für den Inhalt waren vor allem General a. D. Horst Niemack, Major a. D. Paul Stecken, Major a. D. Max Habel, Clemens Freiherr von Nagel-Vornholtz, Hans Niemann, Alfons Schulze Dieckhoff und Hans-Heinrich Brinkmann. In dieser ersten Auflage waren die Ausbildungsgrundsätze noch nicht zur Ausbildungsskala zusammengefasst.
Erst in den folgenden Jahren erfuhr die Skala der Ausbildung einen größeren Bekanntheitsgrad, besonders durch Vorträge Horst Niemacks. In der 1978/9 überarbeiteten Auflage tauchte dann zum ersten Mal die "Skala der Ausbildung" in der heutigen Form und Reihenfolge auf.

Petra Roth-Leckebusch EWU-Trainerin B und Pferdewirtschaftsmeisterin
"Seit 20 Jahren gibt es die Western-Ausbildungsskala der Ersten Westernreiter Union Deutschlands (EWU). Sie wurde mit vielen Trainern der EWU erarbeitet. Die Punkte der Skala sind gleichwertig auf einem Kreis dargestellt: Takt, Losgelassenheit, Nachgiebigkeit, Aktive Hinterhand, Geraderichten. Absolute Durchlässigkeit steht als oberstes Ziel in der Mitte. Da wir ohne ständigen Zügelkontakt reiten, gibt es bei uns die Nachgiebigkeit des Pferds gegenüber allen Hilfen anstelle der Anlehnung. Und statt der Versammlung ist das oberste Ziel die absolute Durchlässigkeit. Denn wir sind eine Gebrauchsreitweise, und Versammlung entsteht immer aus der Aktion heraus, etwa bei der Arbeit am Rind. Der wichtigste Punkt ist für mich persönlich die Losgelassenheit, wenn sie fehlt, kann keine Harmonie zwischen Reiter und Pferd entstehen."

Svenja Braun ist IPZV-Trainerin A, Richterin im Islandpferdesport, Pferdewirtschaftsmeisterin und Jungpferdebereiterin.
"Auch im Islandpferdesport arbeiten wir ganz klassisch auf Grundlage der Skala der Ausbildung. Vor allem in Bezug auf den Takt müssen wir aber besonders flexibel bleiben und die Kriterien manchmal auch weiter ansetzen. Pferde mit viel Tölt werden zum Beispiel oft den Galopp nicht so perfekt im Dreitakt springen können wie ein dreigängiges Pferd. Oder ein Isländer hat im Tölt aufgrund seiner Veranlagung einen leicht zum Pass verschobenen Takt, ist aber in Sachen Losgelassenheit, Anlehnung und Geraderichtung schon weit. Dann sehe ich das nicht ganz so eng. Toll wäre, wenn wir im Islandpferdebereich noch stärker eine gemeinsame Richtung finden würden, vielleicht sogar die FN-Skala speziell an uns angepasst niederschreiben würden. Dann könnten wir so viel es geht von der FN mitnehmen und zugleich Besonderheiten beschreiben."

Die Basis: Wie hängen Takt, Losgelassenheit und Anlehnung zusammen?
Für Michael Putz sind Takt und Losgelassenheit zwei untrennbar miteinander verknüpfte Ausbildungsziele. "Wenn das Pferd nicht taktmäßig geht, kann es sich nicht loslassen, und wenn es sich nicht loslassen kann, kann es nicht taktmäßig gehen." Um das Pferd richtig zu lösen, braucht der Reiter laut Putz Gefühl für den jeweils individuellen Ablauf der Grundgangarten – nur so kann er das passende Grundtempo wählen, in dem das Pferd mit losgelassenem Rücken gehen kann.
Überhaupt ist bei den Punkten Takt und Losgelassenheit das Tempo unverzichtbarer Kollege. Das betont auch Bianca Rieskamp: "Wenn das Tempo, wie ich oft beobachte, zu eilig ist, können Takt und Gleichgewicht nicht stimmen." So sieht das auch Claudia Butry: "Oft ist das Tempo, das der Reiter wählt, etwas zu hoch." Ihr Tipp: Bewusst herausfinden, in welchem Tempo das Pferd den Hals fallen lässt, zum Schwingen und Federn kommt.
Grund für zu hohes Tempo ist laut Rieskamp oft ein falsches Verständnis von Anlehnung. "Dann wird das Pferd nicht an die Hand, sondern gegen die Hand getrieben." Richtig wäre, wenn der Schenkel sanft da ist. Rieskamp empfiehlt bei Problemen mit Takt und Losgelassenheit oder frisch angerittenen Pferden zudem den "verbindungshaltenden Zügel". "Ich halte eine leichte Verbindung, wirke mit dieser nicht auf Hals und Kopf ein, sondern lasse elastisch die Kopf-Hals-Bewegung zu."
Takt und Losgelassenheit lassen sich kaum ohne die Anlehnung verstehen, findet Michael Putz. Die Richtlinien für Reiten und Fahren beschreiben sie als stete, weich federnde Verbindung zwischen Reiterhand und Pferdemaul. Der Reiter muss dem Pferd diese Verbindung laut Putz "schmackhaft" machen. So früh wie möglich soll er durch optimal ausbalanciertes Sitzen dafür sorgen, dass das Pferd unter ihm seine Gehfreude behält bzw. wiedergewinnt. "Dann kann er sein Pferd erleben lassen, wie schön es ist, vertrauensvoll an die vom Sitz unabhängige Hand heranzutreten; diese begleitet elastisch sein Maul und hilft ihm, sich auch unter dem Reiter ausbalanciert bewegen zu können."
Dabei werde der erfahrene Reiter das Pferd auch mit seinem Schenkel begleiten und ihm je nach Bedarf ein etwas frischeres oder auch ruhigeres Tempo vorgeben. Bei jungen Remonten könne eine an der Schulter eingesetzte kurze Gerte mit Klatsche helfen, wenn das Pferd sich etwas verhält. "Je vertrauensvoller es vorwärts geht, desto besser kann es sich loslassen", so Putz. Durch das Zusammenspiel der Hilfen könne der Reiter das Grundtempo kontrollieren und taktmäßiges Gehen fördern.
Dass das Pferd an die Hand herantritt, ist auch wichtig für die Dehnungsbereitschaft des Pferds. Claudia Butry lässt das Pferd immer wieder den Rahmen verändern, in dem sie das Zügelmaß variiert. "Die Zügel abwechselnd aus der Hand kauen zu lassen und wieder aufzunehmen, verbessert die Losgelassenheit und im weiteren Verlauf auch die Anlehnung."
Wie fein muss oder darf die Anlehnung sein?
In einem Punkt sind sich alle drei Ausbilder einig: Die Anlehnung wird im Verlauf der Ausbildung feiner und leichter – auch wenn man oft das Gegenteil sieht. Doch Michael Putz sieht im Ideal der feinen Verbindung auch eine Gefahr: "Das ist ein Ziel, das die meisten Reiter ihr Leben lang nicht erreichen werden." Wer es zu früh erreichen wolle, setze Takt und Losgelassenheit aufs Spiel: "Ein Pferd, das noch nicht losgelassen ist, muss eingerahmt werden, es braucht Unterstützung von hinten nach vorne."

Während Sportreiter ihre Pferde teils mit dem Zügel geradezu strangulierten, ritten viele Freizeitreiter "am losen Bändele" und ihr Pferd damit ihr Leben lang nicht durchs Genick. "So lernt das Pferd aber nicht, den Reiter gesund zu tragen." Nur wenn es vertrauensvoll an die Hand bzw. das Gebiss herantrete, werde es auch anfangen zu kauen und im Genick nachgeben.
Bianca Rieskamp sieht eher das Problem einer zu straffen Zügelverbindung im Vordergrund. "Ich sehe auch den Begriff ,vom Gebiss abstoßen‘ kritisch. Oft führt er dazu, dass nicht an die Hand, sondern gegen die Hand geritten wird." Viele Reiter seien viel zu fokussiert auf den Zügel, wenn sie eine Anlehnung anstreben. Dabei sei das am Zügel stehen durchaus weiter zu denken: im Sinne eines Pferds, das an allen Hilfen steht.
Um handorientiertes Reiten zu vermeiden, gibt Rieskamp im ersten Schritt der Ausbildung oder bei der Korrektur von Pferden die Zügelverbindung auch mal ganz auf. "Ich bin eine Freundin des hingegebenen Zügels und der Zwanglosigkeit." Zwanglosigkeit steht für sie noch vor der Losgelassenheit – und soll helfen, die eigenen Ansprüche an das Pferd zunächst bewusst herunterzuschrauben. Das Pferd muss nicht fleißig gehen, braucht keinen Raumgriff. Rieskamp bezieht sich dabei auf Waldemar Seunig, der die Zwanglosigkeit mit der Manier verglich, in der sich Pferde auf der Weide unaufgeregt von einem Ort zum anderen bewegen. "Genau das brauchen wir als Ausgangspunkt für alles Weitere – nicht im Stechtrab gegen die Hand gerittene Pferde, die als Folge dieser falschen Vorgehensweise hinter der Senkrechten gehen."

Einen Praxistipp für gute Anlehnung geben Rieskamp und Putz unabhängig voneinander beide: Einhändig reiten und einhändig die Zügel überstreichen.
Zügel aus der Hand kauen für die Anlehnung

Ausbilder Knut Krüger machte seine Bereiterlehre bei Paul Stecken und arbeitete bei Grand-Prix-Reiter Waldermar Reß. Er bildet nach der Reitvorschrift H.Dv.12 aus. Losgelassenheit und Anlehnung erarbeitet er über die Dehnung.
Für Krügers Variante lassen Sie zunächst die Zügel aus der Hand kauen. Geben Sie dazu längere gleichseitige annehmende Zügelhilfen und geben erst nach, wenn das Pferd den Hals senkt und Dehnungsbereitschaft zeigt. So lassen Sie die Zügel Stück für Stück länger. "Paul Stecken forderte bei jedem Pferd das Zügel aus der Hand kauen bis zur Schnalle."
"Anfangs gebe ich die Zügel dabei lieber komplett hin, wenn das Pferd nachgibt, als zu wenig darauf zu reagieren." So spüre das Pferd einen doppelten positiven Effekt der Dehnung: Die Entlastung des Rückens – und kein Druck mehr im Maul. "Ich sehe es so, dass wir keine konstante Zügelverbindung brauchen, bevor nicht die Losgelassenheit da ist." Diese könne in der Dehnungshaltung entstehen.
"Erst wenn das Pferd so selbstständig in einer tiefen Dehnungshaltung bleibt, dass Sie sich fragen, wie Sie den Kopf je wieder hochbekommen, sollten Sie ans Zügelaufnehmen denken", so Krüger. Dazu aktivieren Sie zunächst etwa mit Übergängen die Hinterhand, so dass das Pferd allmählich relative Aufrichtung findet und nehmen langsam die Zügel auf.
Kann ein schiefes Pferd im Takt gehen?
Der Takt ist der erste Punkt der Ausbildungsskala und ein Prüfstein für jede Lektion und jeden weiteren Ausbildungsschritt: Gibt es Taktstörungen, stimmt etwas nicht. Doch ist ein gleichmäßiger Takt überhaupt möglich, wenn das Pferd noch sehr schief ist? Schließlich bedeutet Takt räumliches und zeitliches Gleichmaß der Schritte, Tritte und Sprünge. Das Pferd soll also auf beiden Seiten gleich viel Boden gut machen. "Wenn ein Hinterbein viel mehr schiebt als das andere, weil das Pferd im Körper sehr verbogen ist, kann das nicht funktionieren", sagt Claudia Butry.
Dann sei es sinnvoll, auf niedrigem Niveau bereits mit geraderichtender Arbeit zu starten – etwa, indem man das Pferd von der hohlen Seite weggestellt in Außenstellung reitet, zum Beispiel auf dem zweiten Hufschlag. Auch Seitwärtsbewegungen wie Schenkelweichen und erste Seitengänge könnten helfen.
Michael Putz ist ebenso der Ansicht, dass das Pferd stets geraderichtend geritten werden sollte. "Ein tüchtiger Reiter wird auch ein ,grünes‘, unausgebildetes Pferd nicht schief und krumm daherlaufen lassen." Während ein schiefes Pferd auf der ganzen Bahn vielleicht noch den Takt halten könne, werde es spätestens in Wendungen schwierig. Dann gehe das Pferd über eine Schulter weg oder drifte mit der Hinterhand nach innen. Spätestens dann muss der Reiter laut Putz einen Weg finden, mit der Schiefe des Pferds umzugehen. Im Fokus steht für ihn dabei, dass das Pferd lernt, auch auf seiner hohlen Seite an den Zügel heranzutreten. "Bei Biegungen zur festeren Seite (Zwangsseite) hin geht es nicht um innen nachgeben, sondern um außen auf der hohlen Seite herantreten."

Vorwärts-Seitwärtsbewegungen wie beim Viereck verkleinern könnten zur geraderichtenden Arbeit dazugehören, aber immer mit Maß: "Was sagt mir wiederum, wieviel ich dabei seitwärts darf? Der Takt. Gerät das Pferd aus dem Takt oder fängt gar an scheinbar zu humpeln, reiten Sie mehr vorwärts", so Putz.
Schwung oder Spannung? Häufige Missverständnisse
"Mit dem Schwung haben wir heute ein Problem", stellt Bianca Rieskamp fest. "Die modernen Pferde bringen viel Bewegung mit, sind unter dem Reiter noch angespannter – und viele Leute setzen diese spektakulären Bewegungen dann mit Schwung gleich." Schwebetritte, bei denen das Pferd jeder Natürlichkeit beraubt ist, haben aber nichts mit Schwung zu tun. "Diese Bewegungen sind nicht schwungvoll, sondern gespannt."
Michael Putz liegt ebenfalls mit der gängigen Auffassung von Schwung im Clinch: "Schwung ist der am häufigsten missverstandene Begriff unserer Reitlehre." Spektakulärer Showtrab habe damit nichts zu tun. Und: Jedes Pferd könne schwungvoll gehen, egal ob Haflinger oder modernes Sportpferd. Es kommt laut Putz nur darauf an, dass es gut geritten ist.

Wie also definiert sich Schwung unabhängig von angeborenem Bewegungspotential? Für Putz ist es kein Zufall, dass Anlehnung und Schwung genau in der Mitte der Skala und direkt übereinander stehen: "Die Querverbindung zwischen Anlehnung und Schwung ist gewissermaßen ein Schlüsselelement unserer Ausbildungsskala." Erst wenn ein Pferd dank der Arbeit an den vorgeschalteten Ausbildungszielen gelernt habe, vertrauensvoll an die Hand heranzutreten, werde es anfangen, vermehrt mit den Hinterbeinen nach vorne durchzuschwingen.
Als Reiter kann man den Schwung nach Bianca Rieskamp auch deutlich spüren – und zwar lässt ein schwungvoll gehendes Pferd den Reiter nicht etwa schwieriger, sondern leichter sitzen. "Schwung bedeutet auch, dass der Rücken locker schwingt, dass ich im Trab besser zum Sitzen komme." Im weiteren Verlauf der Schwungentwicklung gehe es dann um Tritte verlängern oder Mitteltrab. Richtig ausgeführt, werde der Reiter hier in die Bewegung mitgenommen, regelrecht in den Sattel gezogen – statt sich selbst über die Zügel hineinzuziehen. Für echten Schwung müssen die Gelenke des Pferds locker sein und schwingen – "so entsteht natürliche Leichtigkeit in der Bewegung", erklärt Rieskamp.
Was kommt zuerst – Schwung oder Geraderichtung?
In der klassischen Pyramide der Ausbildungsskala steht der Schwung vor der Geraderichtung – eine Darstellung, die womöglich zu verschleißenden Missverständnissen führen kann? Zumindest sollte man Schwung nicht zu früh anstreben, meint Claudia Butry. "Zum Schwung gehört, dass beide Hinterbeine gleichmäßig den Körper nach vorne schwingen – das geht nicht, wenn die Schiefe noch nicht bearbeitet ist." Wer noch dazu Schwung mit Vorwärtsscheuchen auf der ganzen Bahn – oder schlimmer noch auf Kreislinien – verwechselt, verschleißt am Ende wirklich sein Pferd.
Dass Schwung ohne vorheriges Geraderichten nicht möglich sei, hält Michael Putz für einen zweifellos berechtigten Einwand. Umgekehrt könne aber die lebenslang notwendige geraderichtende Arbeit auch nur erfolgreich verlaufen, wenn das Pferd dank der Arbeit an den vorgeschalteten Ausbildungszielen genügend gehfreudig vorangeht und so an die Hand herantritt.

"Den Ausbildungsplan der Schule der Légèreté hat ihr Begründer Philippe Karl auf Grundlage des Wissens alter Meister entwickelt. Prägend waren etwa de la Guérinière, Baucher, Steinbrecht, Fillis oder William Cavendish Duke of Newcastle. Die wichtigsten Säulen der Ausbildung sind Entspannung, Impulsion, also die Reaktivität auf Schenkel und Gerte, sowie das Gleichgewicht des Pferds. Auf der zweiten Ausbildungsetappe folgen Biegsamkeit des Halses und auf der dritten Mobilität, also das Reiten von Seitengängen. Schließlich folgt die Versammlung. Die Punkte entwickeln sich dabei zum Teil gleichzeitig. Aus den hohen Lektionen wie Piaffe oder Passage heraus kann dann schließlich jedes Pferd eine Kadenz entwickeln, die gut veranlagte Pferde bereits von Natur aus mitbringen."

Gunnar Wiedner ist Reitlehrer der Ecole de Légèreté und bildet sich regelmäßig bei Philippe Karl weiter.
Wie erreicht man die Versammlung?
Kommen wir zum letzten i-Tüpfelchen der Pferdeausbildung – der Versammlung. Nicht umsonst bildet sie die Spitze der Pyramide, denn ohne Unterbau wird es nichts mit der höchsten Stufe. Bianca Rieskamp sieht es so: "Daraus, dass wir die ersten fünf Punkte erarbeiten und durch gezieltes Reiten von Lektionen ergibt sich die Versammlung." Ihre Meinung: Niemand sollte sich an der Versammlung festbeißen – "Eine solide Grundausbildung geprägt durch Harmonie zwischen Reiter und Pferd sollte wieder mehr Anerkennung erfahren als hohe Lektionen und Versammlung in gespannten Bewegungen."

Druck herauszunehmen, rät auch Claudia Butry. Gleichzeitig hat versammelnde Arbeit für sie bereits im Laufe der Ausbildung ihren Platz neben den anderen Ausbildungszielen. "Man darf bei Versammlung meiner Meinung nach nicht immer nur an Raketenwissenschaft denken. Schon eine Volte ist schließlich eine versammelnde Lektion." Dass sich die Versammlung im Verlauf der jahrelangen Ausbildung des Pferds stufenweise immer weiterentwickle, zeigten auch die Aufgabenhefte für Turnierprüfungen: Sind in Klasse A in der Dressur noch Zehn-Meter-Volten gefragt, sind es ab Klasse L nur noch acht Meter und in den schweren Klassen sogar teilweise sechs Meter.
Michael Putz sieht in einer gewissen Versammlungsfähigkeit ebenfalls einen Vorteil für jedes Pferd: "Ein Pferd, welches gelernt hat, wenigstens etwas Versammlung anzunehmen, geht unter dem Reiter zufriedener, ist trittsicherer, lässt sich präziser reiten und wenden, bewegt sich ausdrucksvoller und es kann den Hilfen besser folgen, wird somit durchlässiger." Er warnt aber zugleich davor, die Versammlung zu früh zu forcieren, die anderen Punkte der Skala müssten zuerst angemessen erreicht sein. "Sonst besteht leicht die Gefahr, dass das Ganze mehr von vorne nach hinten, als von hinten nach vorne angegangen wird." Ähnlich wie die Durchlässigkeit steigert sich die Versammlungsfähigkeit, wenn sich die übrigen Punkte der Skala verbessern. Moderne Pferde haben allerding oft schon zu Beginn ihrer Ausbildung einen gewissen Grad an Durchlässigkeit bzw. Rittigkeit.
Einen Punkt, sozusagen Punkt 6b, würde Putz der Ausbildungsskala gerne hinzufügen: die Aufrichtung. Sie ist das Ergebnis korrekter Versammlung – zumindest, wenn es um relative Aufrichtung geht. Sie definiert sich dadurch, dass das Pferd in dem Maß mit der Vorhand größer wird, in dem sich die Hinterhand senkt. "Leider wird heute vielfach primär auf das Genick als höchstem Punkt geachtet, was aber häufig zu ,oben hin gestellten‘ Pferden führt, die im Rücken total fest sind", bedauert Putz.
Das ist dann sogenannte absolute Aufrichtung, sozusagen schöner Schein ohne Fundament. Wer so reitet, hat ein paar Punkte der Skala vergessen.

Richard Hinrichs, Vorsitzender des Instituts für Klassische Reiterei Hannover
"Die ,Bibel‘ der klassisch-barocken Reitweise ist sozuagen de la Guérinières Werk ,Reitschule‘. Ins Deutsche übersetzt sind dabei überwiegend nur die Kapitel zur Ausbildung der Schulpferde – beschäftigt man sich mit den französischen Originaltexten von Kapitel 19 und 20, die die Ausbildung von Kriegs- und Jagdpferden behandeln, sieht man noch mehr Parallelen zur Ausbildungsskala nach der H.Dv.12. Deren Grunsätze haben übrigens durchaus auch für die barocke Reiterei ihren Wert – etwa, dass erst die Freude am Vorwärts beim Pferd da sein muss, bevor es sich versammeln kann. Die Ausbildungskala der FN kann man also durchaus auch für die barocke Reitweise als Hilfestellung betrachten, aber nie als starres Korsett."