Der richtige Absprung: Taxier-­Talent oder Training?

Taxieren am Sprung
Der richtige Absprung: Taxier-­Talent oder Training?

Zuletzt aktualisiert am 11.02.2009
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Foto: Rädlein

Rigoletto kann’s: Der Wallach wechselt die Weide, wie seine Kumpel von einem Grashalm zum nächsten gehen. Zäune sind ihm egal, er springt einfach drüber.

Rigoletto ist ein Taxier-­Talent. Weniger begabten Pfer­den hilft Training, ihre ­Fähigkeiten zu optimieren. Bei guter Ausbildung lernen die meisten, sicher zu springen.

Aber was ist angeborenes Talent beim Finden des richtigen Absprungs und was kann durch Training erreicht werden?

Training oder Talent: Wer kann’s – wer nicht?

Wie gut die Pferde springen, hängt allerdings vom Talent ab. Dabei spielen auch Nerven eine Rolle, wie die Forschung an Menschen zeigt. Eishockeystar Wayne Gretzky etwa schoss den Puck schneller ins Tor als andere. Ein Neurologe stellte fest, dass auch Gretzkys Nervenreflexe schneller waren als je zuvor gemessen. Welche neurologischen Komponenten ein gutes Springpferd auszeichnen, ist noch nicht erforscht.

Keine Zweifel gibt’s an der Bedeutung der Sehfähigkeit. Um ein Hindernis zu taxieren, muss das Pferd es sehen, am besten dreidimensional. Das geht wegen der seitlichen Augenlage nur, wenn es frontal zum Sprung schauen und den Kopf mit der Nasenlinie an oder vor der Senkrechten tragen kann.

Je tiefer und weiter hinter die Senkrechte ein Pferd geritten wird, desto größer der tote Winkel vor ­dessen Kopf; logisch, dass sich viele Tiere vor Hindernissen aus einer zu engen Beizäumung herausheben.

Weit verbreitet: Leichte Kurzsichtigkeit bei Pferden

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Das könnte daran liegen, dass sie erst kurz vor dem Hindernis taxieren. Dies legt eine Studie über 300 Sprünge von fünf Pferden nahe: "Beim Anreiten galoppierten die Pferde regelmäßig. Besonders die Länge des drittletzten Galoppsprungs war ziemlich konstant", sagt Biomechaniker Dr. Parvis Falaturi aus Niedenstein/Hessen.

"Die letzten zwei Sprünge variierten jedoch stark. Hier machten sich die Pferde offenbar den Absprung passend." Dabei spielten auch Erfahrung und Talent eine Rolle, die besseren Springer zeigten stabilere Muster als die schlechteren.

Kein Wunder: Erfahrungen wirken sich auf alle nicht rein reflexgesteuerten Bewegungen aus. Das Gehirn verknüpft ­aktuelle Eindrücke mit Erin­nerungen. "Die Informationen fließen aus Groß- und Kleinhirn zusammen, bevor bewegungsbestimmende Nerven­impulse über das Rückenmark an die Muskeln gesendet werden", sagt Claudia Graubner.

Hilft ein gutes Gehör am Sprung?

Zwar können Pferde ebenfalls räumlich hören und so eine Geräuschquelle lokalisieren. Dass sie Sprünge per Sonar orten, hält der Physiologe aber für unwahrscheinlich.

Um korrektes Taxieren zu fördern, muss die Ausbildung sinnvoll aufgebaut sein. Freispringen kann helfen, aber nicht das Training unter dem Reiter ersetzen. Balance und Bewegungsablauf sehen mit Reitergewicht ganz anders aus als ohne.

Wer hoch hinaus will, muss ganz unten anfangen. "Legen Sie zuerst nur etwas auf den Boden", sagt Werner Deeg aus Feuchtwangen in Bayern, Parcoursbauer bei internationalen Turnieren. Er empfiehlt eine weiße Latte oder Planke. "Tritt ein Pferd auf eine Stange, kann es sich verletzen."

Profis wie Springreiter Holger Wulschner aus Groß Viegeln in Mecklenburg-­Vor­pommern nutzen dennoch Stangen, meist ohne Probleme. "Wir galoppieren die Jungpferde über einzelne und später über mehrere Stangen", eräutert Wulschner. Verschiedene Anordnungen und Abstände fördern Rittigkeit und Durchlässigkeit.

Die Pferde lernen, gelassen und gleichmäßig zu galoppieren und sich im Tempo regulieren zu lassen. Erst wenn Bodenstangen im ruhigen Galopp überwunden werden, sollte man den ersten Sprung anreiten. Damit dieser gut zu taxieren ist, müssen Ober- und Grundlinie sowie die Seiten gut erkennbar sein.

Fangständer machen das Hindernis breiter und führen die Pferde optisch in die Mitte. Der Sprung sollte massiv wirken, aber trotzdem durchsichtig sein, damit das Pferd sehen kann, wo es landen wird.

Etwa 20 bis 50 Zentimeter vor dem Hindernis markiert eine Stange oder Latte am Boden die Grundlinie. Wie hilfreich diese ist, stellte Parvis Falaturi bei den Sprungmessungen fest. "Als wir die Stange vom Fuß des Hindernisses etwas weiter vorrollten, sprangen vor allem die schwächeren Pferde besser." Offensichtlich konnten sie so leichter taxieren.

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Stangen mit Farbkontrasten aussuchen

Kreuz-Freunde meinen, dass das Pferd so besser in die Hindernismitte gelenkt wird; Steilsprung-Verfechter glauben, dass Pferde gerade Oberlinien besser taxieren können. Eine dritte Variante ist ein kleiner Steilsprung, an dessen oberster Stange zwei Latten so angelegt werden, dass sie das Pferd trichterartig zum Hindernis führen.

In jedem Fall sollten die Stangen bunt und gemustert sein. "Farb- und Hell-Dunkelkontraste helfen den Pferden, Konturen leichter zu erkennen," erklärt Werner Deeg. Pferde nehmen Farben in etwa so wahr wie rot-grün-blinde Menschen. Während manche ­einfarbigen Stangen mit dem Hintergrund verschmelzen können, sind bunte auffälliger.

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Auch der Anreitweg entscheidet, wie ein Pferd taxiert. Geradeaus hat es dafür mehr Zeit als aus Wendungen, in denen es das Hindernis erst kurz vor dem Absprung mit beiden Augen erfassen kann. Wendungen sind deshalb nur ein Fall für Fortgeschrittene.

Ob die ersten Sprünge im Trab oder Galopp genommen werden, liegt am Pferd. Die meisten bevorzugen den Galopp. Kurz vor dem Absprung sollte der Reiter das Tempo nicht mehr verändern. Das stört die Konzentration auf den Sprung. Den richtigen ­Absprung findet das Pferd ­anfangs leichter mit einer ­Vorlegestange. Sie liegt im ­Galopp ungefähr 3 bis 3,5 und im Trab 2 bis 2,5 Meter vor dem Hindernis.

Die Anforderungen sollten erst steigen, wenn ein Pferd die vorige Aufgabe sicher ­meistert. Neue Hinder­nis­typen sind große Heraus­forderungen, da der passende Absprung je nach Tiefe ­unterschiedlich dicht vor dem Hindernis liegt. Gatter, Unterbauten wie Kästen und Mauerteile oder untergelegte Planen ­lassen Hindernisse völlig neu aussehen.

Damit Pferde nur gute Eindrücke sammeln und das Vertrauen in den Reiter nicht verlieren, sollte jener schon viel Spring-Erfahrung haben – oder einen guten Trainer an seiner Seite. Sonst bleibt das größte Springtalent verborgen – oder zeigt sich nur auf der Weide.

Chiron-Trainer Schmidt-Nechl: "Ein Pferd muss sich selbst helfen können"

CAVALLO-Experte Oliver Schmidt-Nechl:

Er wünscht sich ein ­mitdenkendes Pferd, das den ­passenden Absprung selbst findet. Das Chiron-System sieht das Pferd als selbständigen ­Partner des Reiters. Systematisch wird das Pferd an immer schwierigere ­Hindernisse herangeführt. Gerade am Anfang muss der Aus­bilder dabei behutsam, langsam und mit viel ­Finger­spitzengefühl vorgehen. Der Reiter hält sich in dieser Phase zurück; er sollte beim Sprung nicht ein­greifen. Nur so lernt das Pferd ohne Reiter­kom­mando, wo und wann es abspringen muss.

Gerade im Gelände ist diese Selbständigkeit wichtig. Durch die Bodenuneben­heiten kann der ­Reiter den optimalen Absprung nicht immer sicher ­erkennen. Spätestens wenn das Pferd stol­pert, muss es sich selbst helfen und einen neuen Absprung finden können.

Selbständig heißt ­übrigens nicht, dass der Reiter passiv werden darf. Er ­bestimmt den Weg, das Tempo und den Rhythmus, er muss dem Pferd auch klar signa­lisieren, dass er über den Sprung reiten möchte.

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Disziplintrainer Engemenn: "Zu viel Selbständigkeit macht springmüde"

CAVALLO-Experte Heinrich Hermann Engemann:

Damit Pferde eine Chance haben, den richtigen Absprung zu finden, müssen sie sich von ihrem Reiter führen lassen. Die Parcours auf mittlerem und hohem ­Niveau werden jedes Jahr anspruchsvoller. Parcours-Designer variieren Distanzen und Hinderniskombinationen immer neu.

Nur der Reiter weiß, ob eine Distanz für sein Pferd eng oder weit ausfallen wird und ob nach dem Hindernis eine enge Folge von Steilsprüngen oder ein breiter Wasser­graben wartet. Er muss Wege, Tempo, ­Galoppsprünge und Absprungpunkte so wählen, dass das Pferd den ­gesamten Parcours gut bewältigen kann.

Diese Übersicht kann ein Pferd nicht haben. Es selbständig den Absprung suchen zu ­lassen, würde es überfordern. Dafür muss das Pferd ausgebildet sein. Die dressurmäßige Arbeit ist ­wichtig, da das Pferd sonst nicht genau auf den Punkt geritten werden kann.

Muss ein Pferd beim Springen zu viel selbst entscheiden, macht es irgendwann Fehler. ­Passiert das öfter, ­verliert es die Lust am Springen und das Vertrauen in den Reiter.

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